Zum Geleit

Vor über einem Jahr habe ich an dieser Stelle bereits über unsere persönlichen Erlebnisse in den Tagen der verheerenden Flut im Ahrtal geschrieben. Seither ist vieles geschehen und auch vieles aus jenen Stunden zutage getreten. Es sind Dinge, die ich euch nicht vorenthalten möchte; ich habe den Eindruck, dass die landesweiten Medien das Thema vielleicht nicht vergessen, aber doch in den Hintergrund gestellt haben. Im Ausland wird der Informationsstand bezüglich der Flutkatastrophe und ihrer Umstände nicht besser sein.

Was ich hier zusammengetragen haben, soviel als Triggerwarnung, ist keine schöne Lektüre, und wer sehr empfindsam ist, sollte auf die Lektüre vielleicht verzichten. Die Geschichte der Flut im Ahrtal ist mit Sicherheit in vielen Teilen auch eine Geschichte von Helden – Helden wir Ruth und Gerold zum Beispiel, einem älteren Paar in unserem Wohnkomplex, die in der Flutnacht eine ältere Dame aus dem Erdgeschoss ihres Hauses retteten. Die beiden waren in den Tagen nach der Flut im gleichen Hotel ausquartiert wie meine Frau und ich. Es gab viele Helden in jenen Stunden, zu viele um sie hier alle zu erwähnen. Und was diese Helden oftmals ausmachte war der Umstand, dass sie nicht nach Regularien und Zuständigkeiten fragten, sondern einfach tätig wurden.

Die Geschichte des 14. und 15. Juli 2021 ist aber leider auch eine Geschichte des Versagens. Sie erzählt vom Versagen von einzelnen Entscheidungsträgern, aber auch ganzer Strukturen und Regularien. Zu Schulzeiten hatte ich einen Physiklehrer, der immer dann, wenn ein aufgerufener Schüler partout den Mund nicht aufbekam, brüllte: „Rede, Kerl, rede irgendwas, aber rede!“ So manches Mal möchte man, wenn man sich mit den Ereignissen der Flutnacht befasst, der einen oder anderen handelnden Person zuschreien: „Mach, Kerl, mach irgendwas, aber mach!“

Die Informationen in diesem Artikel entstammen, soweit sie nicht auf persönlich Erlebtem beruhen, öffentlich zugänglichen Medien, wesentlich aus der Koblenzer Rhein-Zeitung, deren Artikel leider zumeist hinter einer Bezahlschranke verborgen sind. Ganz besonders erwähnen möchte ich aber die Journalisten Gisela Kirchstein, die in ihren Artikeln im regionalen Nachrichtenportal Mainz& gerade die Arbeit des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Ahrflut sehr akribisch dokumentiert.

Die Vorgeschichte

Im Spätsommer 2019 zogen wir nach Bad Neuenahr. Mrs. Delminho und ich hatten schon lange überlegt, unseren Wohnsitz in eine Gegend zu verlagern, die noch etwas schöner war als unsere alte Heimat in der Voreifel. Das Ahrtal war zunächst nur eine Option unter vielen. Dann lernten wir Bad Neuenahr kennen, verbrachten manchen Samstag mit Spaziergängen in den Parkanlagen, einem Latte Macchiato im „Café Feinsinn“, einem kurzen oder auch längeren Besuch im Kaufhaus Moses, und nahmen jeweils etwas frischen Fisch von „Fisch Meyer“ mit nachhause. Und schließlich fanden wir dann diese schöne, moderne Wohnung nur drei Gehminuten vom Ahrufer entfernt.

Und es war eine gute Entscheidung – Bad Neuenahr ist ein Kurort, gerade im Sommer fühlten wir uns dort wie im Urlaub. Das ist ja auch kein Wunder, andere Leute verbrachten ihren Urlaub dort, wo wir wohnten. Ganz in der Nähe ist Ahrweiler mit seiner historischen Altstadt, der Stadtmauer mit ihren vier Stadttoren. Die Weinberge mit ihren Wandermöglichkeiten waren gerade mal zehn Gehminuten von unserer Haustüre entfernt. Nicht umsonst habe ich unsere Heimatstadt in dem ihr gewidmeten Album „meine Zuflucht“ genannt; gerade 2020, im ersten Jahr der Pandemie, war sie nichts weniger als eine Zuflucht für mich, ein Stück heile Welt in einer Zeit der Unsicherheit.

Dass wir aufgrund der mit der Pandemie einhergehenden Unsicherheiten keine Reisen machen konnten, hat uns nicht wirklich gestört. Der Landkreis Ahrweiler ist recht groß, er erstreckt sich vom Rheinufer bis zum Nürburgring, und einige Monate lang adaptierte ich eine Regel, die seinerzeit in einem anderen europäischen Land galt, ich glaube das war Italien. Dort durfte man sich nur innerhalb seiner Heimatprovinz frei bewegen, und so blieb ich monatelang in unserem Landkreis, der damals überdies vergleichsweise niedrige Corona-Zahlen hatte. Kurz gesagt: wir fühlten uns an der Ahr denkbar wohl.

Frühjahr und Frühsommer 2021 waren sehr verregnet; ich erinnere mich an die Zeit nach Ostern, ich hatte eine Woche freigenommen, und wir verbrachten sie aufgrund des schlechten Wetters fast nur in der Wohnung. An einigen meiner Fotos kann man sehen, dass die Flüsse und Bäche der Region auch im Frühsommer deutlich mehr Wasser führten als normalerweise in dieser Jahreszeit, zum Beispiel die Ahr selber oder der Elzbach in der benachbarten Vulkaneifel. Und dann, im Juli, kam das Tiefdruckgebiet Bernd.

Bereits Tage vor der Flut machte das europäische Frühwarnsystem EFAS deutsche Behörden auf die drohende Katastrophe aufmerksam – 24 Stunden vor der Flut mit einer Genauigkeit von 90 Prozent. Wirkliche Konsequenzen hatte das nicht; in den Wetterberichten wurde zwar von hohen Niederschlagsmengen gesprochen, aber welcher durchschnittliche Bürger versteht schon, was sich hinter einer bestimmten Regenmenge pro Quadratmeter verbirgt? Von den Folgen auf Fließgeschwindkeit und Wasserstand der Flüsse ganz zu schweigen.

Den Behörden jedoch waren die möglichen Folgen durchaus bekannt, aber eine rege Tätigkeit löste dies nicht aus. Und es ist ja auch nicht das erste Mal, dass sich ein für Deutschland nicht gerade schmeichelhaftes Bild ergibt. Dieser Staat – ein Staat, der dem Durchschnittsverdiener immerhin per Steuern und Abgaben etwa die Hälfte seiner Wertschöpfung aus der Tasche zieht – kommt mit Krisensituationen nicht zurecht. Er ist, wie man so sagt, nicht resilient. Hartmut Ziebs, der ehemalige Präsident des deutschen Feuerwehrverbands, hat dies einmal sehr prägnant zum Ausdruck gebracht: „Der Bund hat jahrelang Übungen unter dem Titel Lükex durchgeführt. Das Undenkbare wurde durchgespielt und analysiert. Es wurden Forderungskataloge aufgestellt. Konsequenzen? Fast Null! Kann nicht passieren, darf nicht passieren, können wir der Bevölkerung nicht erklären, kostet zu viel Geld, die Liste der Ablehnungsgründe ist fast unerschöpflich.“

Im parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Landtags von Rheinland-Pfalz erklärte der bekannte Schweizer Meteorologe Jörg Kachelmann, dessen Karriere in Deutschland ironischerweise beim hiesigen Rundfunksender SWR3 begann, dass die Behörden bereits zwei Tage vor der Flut die Bevölkerung hätten warnen und Evakuierungen hätten planen können. Kachelmann: „Eine Flut kommt nie plötzlich.“ Im vorhergesagten Starkregengebiet entspringen mehrere Flüsse und Bäche. Die Vesdre fließt Richtung Westen nach Belgien, wo sie in die Ourthe mündet. Erft und Swist fließen Richtung Norden; Letztere mündet zwischen Weilerswist und Bliesheim in die Erft, die dann ihrerseits bei Neuss in den Rhein mündet. Richtung Süden fließen die Kyll – diese mündet in die Mosel – und die Prüm, die in die Sauer mündet, einen Grenzfluss zwischen Luxemburg und Deutschland. Und in Richtung Osten fließen unter anderem die Nette und die Ahr.

Die Ahr entspringt in Blankenheim, das zum Landkreis Euskirchen gehört. Den größten Teil ihrer 85 Kilometer jedoch durchquert sie den Landkreis Ahrweiler. Das obere Ahrtal gehört überwiegend zur Verbandsgemeinde Adenau, das mittlere Ahrtal – dank der steilen Weinberge vielleicht der bekannteste Teil des Tals – gehört größtenteils zur Verbandsgemeinde Altenahr. Der Fluss durchquert dann, im unteren Ahrtal, das Stadtgebiet von Bad Neuenahr-Ahrweiler, um dann auf dem Gebiet der Stadt Sinzig in den Rhein zu münden.

Am 13.07., um 13:49 Uhr, gibt das dem Umweltministerium unterstellte Landesamt für Umwelt in seiner Hochwasserprognose für die Ahr die Warnstufe 2 aus, also die zweitniedrigste. Dieter Merten, Leiter der Feuerwehr von Adenau, hört an diesem Tag eine Aussage aus der Kreisverwaltung: „Wir sollten nicht den Weltuntergang ausrufen.“ An Hochwasser ist man in der Region durchaus gewöhnt. Bereits im Juni 2016 hatte es an der Ahr ein größeres Hochwasser gegeben, seinerzeit als Jahrhunderthochwasser bezeichnet. Vielleicht hatte die Erinnerung an dieses nur fünf Jahre zurückliegende Ereignis Anteil an der Unterschätzung der Gefahrenlage.

Eine Schwäche haben die Vorhersagen definitiv: Messwerte bezüglich der Abflussdaten bestehen an der Ahr erst seit 1947. Auf dieser Grundlage war das Hochwasser von 2016 dann tatsächlich ein historisches Ereignis, beispielsweise der damalige Pegelstand von 3,71 Metern in Altenahr. Historisch belegte Flutkatastrophen aus früheren Zeiten fließen in die Risikoabwägung offenkundig nicht ein. Dies ist ein gewaltiges Manko; der Bonner Geologe Prof. Thomas Roggenkamp schreibt in einem Gutachten für die ermittelnde Staatsanwaltschaft: „Der Scheitelabfluss übertraf das bisher größte gemessene Hochwasser vor fünf Jahren um den Faktor vier bis fünf.“

Auf meinem Rechner stieß ich unlängst auf ein paar Bilder, die ich ganz vergessen hatte – sie stammen von einer kleinen Wanderung entlang der Ahr am Wochenende vor der Flut. Ich werde sie in der nächsten Woche hier veröffentlichen, gemeinsam mit Fotos, die zehn Tage vor dem Hochwasser 2016 entstanden, bei einem Ausflug mit dem Auto von der Quelle der Ahr bis zur Mündung. Nun sind zehn Tage nicht mit vier Tagen vergleichbar, aber der Unterschied im Wasserstand des Flusses ist schon mehr als deutlich und hat, so denke ich, Aussagekraft.

Mittwoch, der 14. Juli, in den Mittagsstunden


Gegen 11 Uhr erhalten Erwin Manz, Staatssekretär im Umweltministerium, und seine Vorgesetzte, Umweltministerin Anne Spiegel, einen Bericht zur Hochwasserlage, der vor erheblichem Hochwasser warnt. Das Tiefdruckgebiet Bernd hat bereits am Vortag zu Starkregen und Sturzfluten im nördlich gelegenen Bundesland Nordrhein-Westfalen geführt, und wird sich laut Vorhersagen in den Norden von Rheinland-Pfalz verlagern.

Als Biologe und Experte für Wasserwirtschaft ist Manz mit der Materie sicherlich vertrauter als seine Chefin. Spiegel hat Politik, Philosophie und Psychologie studiert, und nach dem Studium mehr als ein Jahr lang die Welt bereits. Später hat sie zwei Jahre lang als Deutschlehrerin bei Berlitz gearbeitet. Schon während des Studiums begann ihre politische Karriere, zunächst im Jugendverband der Grünen, später dann in der Partei. 2011 wurde sie in den Landtag gewählt, und fünf Jahre später zur Familienministerin. Als die seinerzeit amtierende Umweltministerin Ulrike Höffken – ebenfalls bei den Grünen verortet – wegen nicht regelkonformen Beförderungen in ihrem Ressort zurücktreten musste, übernahm Spiegel dieses Amt ebenfalls. Nach der Landtagswahl 2021 wurde das Umweltressort für die Ministerin neu zugeschnitten, und Spiegel wurde stelltvertretende Ministerpräsidentin im Kabinett von Marieluise Dreyer (SPD).

Um 11:17 erhöht das Landesamt für Umwelt die Hochwasservorhersage auf die zweithöchste Warnklasse 4. Die dritte Stufe der Klassifikation wird dabei übersprungen; da diese dritte Stufe eine Warnung des betroffenen Landkreises per Email vorsieht, ist diese Benachrichtigung vermutlich nicht erfolgt.

Laut der Aussage des Meteorologen Bernhard Mühr vor dem Untersuchungsausschuss war bereits zu diesem Zeitpunkt absehbar, dass der Extremregen das Ahrtal treffen würde. Er erklärte aber auch: „Es gibt zu viele Wetter-Warnungen in Deutschland.“ Eine Einschätzung, die ich aus persönlicher Anschauung bestätigen kann. Das Wettermodul meines Mobiltelefons zum Beispiel warnt mich fast schon täglich – mal vor zu hohen, dann vor zu niedrigen Temperaturen, oder auch mal vor Nebel. Bei der Planung von Wanderungen ist mir das sehr oft aufgefallen; im Sommer wird auf den gängigen Wetterportalen im Internet für die Orte in der Nähe der belgischen Grenze regelmäßig Unwetteralarm ausgerufen. Wenn ich dann auf der gleichen Website die Vorhersage für den belgischen Nachbarort aufrufe, relativiert sich das dann gewaltig. Die deutsche Unwetterwarnung betrifft dann oftmals lediglich eine abendliche Gewitterneigung. Durch diese permanenten Warnungen werden die Empfänger dann leicht abgestumpft.

So auch am 14. Juli 2021. Der in Deutschland aus dem Fernsehen bekannte Meteorologe Karsten Schwanke bietet, wie er später vor dem Untersuchungsausschuss erklärt, der regionalen Rundfunkanstalt SWR eine Sondersendung zur Hochwasserlage an. Der Vorschlag wird mit Verweis auf die Wettervorhersagen nach den Nachrichtensendungen abgelehnt.

Gegen 13:00 Uhr erreichen die Wassermassen das obere Ahrtal, in der Verbandsgemeinde Adenau gehen um diese Zeit die ersten Notrufe ein. Um 14:22 Uhr steigt die Prognose des Pegels Altenahr auf 4,98 Meter. Spätestens jetzt, so Prof. Roggenkamp in seinem Gutachten für die Staatsanwaltschaft, hätten die Behörden erkennen können, dass die Dimensionen deutlich größer waren als beim Hochwasser 2016. Wie bereits erwähnt, erreichte der Pegel damals 3,71 Meter. Die höchste Warnstufe wird das Landesamt für Umwelt allerdings erst knapp drei Stunden später ausrufen.

Um 14:34 Uhr gibt die Kreisverwaltung eine Warnung über das System KatWarn aus. Gewarnt wird vor Überschwemmungen, Anwohner des Flusses sollen Keller und Tiefgaragen meiden. Allerdings wird im Nachgang bekannt werden, dass aufgrund eines technischen Problems diese Warnung nie von KatWarn auf die App NINA übertragen wird, die auf vielen Mobiltelefonen installiert ist. Für die meisten Menschen stromabwärts ist der 14. Juli nach wie vor ein etwas zu kühler, verregneter Sommertag.

Mittwoch, der 14. Juli, am Nachmittag

Cornelia Weigand sucht die Feuerwache von Altenahr auf; zwei Jahre zuvor ist die parteilose Biologin überraschend zur Bürgermeisterin der Verbandsgemeinde Altenahr gewählt worden. Um 15:29 Uhr erreicht sie dort in einer Besprechung mit dem örtlichen Wehrleiter eine neue Prognose: 5,19 Meter. Sie fragt den Wehrleiter, was sie nun tun kann, und erhält die Antwort: „Lassen Sie uns den Katastrophenalarm ausrufen!“

Allerspätestens in diesen Stunden, so sagen die Wetterexperten, muss klar sein, dass ein Extremereignis auf die Region zurollt. Jörg Kachelmann: „Ja, wir wussten: das würde historisch sein.“ Im oberen Ahrtal fallen die ersten Mobilfunk-Sendemasten aus, die Kommunikation wird erschwert. Um 16:18 Uhr versucht Weigand, nun wieder in der Gemeindeverwaltung, Landrat Jürgen Pföhler anzurufen, der für das Auslösen des Katastrophenalarms zuständig wäre. Sie erreicht aber nur einen Mitarbeiter Pföhlers, bittet diesen um den Katastrophenalarm; der Mitarbeiter muss sich aber erst mal erkundigen und kündigt einen Rückruf an.

Jürgen Pföhler amtiert da bereits seit 21 Jahren als Landrat des Kreises Ahrweiler. Der 63jährige Jurist hatte in den Jahren vorher in Bonn gearbeitet, sowohl in der CDU-Bundestagsfraktion als auch in diversen Ministerien. In der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung, die sich oberhalb von Ahrweiler befindet, hat Pföhler nie einen Lehrgang besucht. Gleiches gilt für die ihm zugeordneten Beamten der Kreisverwaltung; der Katastrophenschutz ist im Kreis Ahrweiler komplett den Ehrenamtlern überlassen.

Gegen 16:30 Uhr spricht Umweltministerin Spiegel vor dem Landtag, der sich gerade in einer Sitzungswoche befindet, zum Thema „Starkregen und Überschwemmungen in Rheinland-Pfalz“. Sie geht dabei auch auf die aktuelle Entwicklung ein: „Informieren Sie sich, nehmen Sie die Situation ernst.“ Generell aber, so die Ministerin, sei Rheinland-Pfalz auf derartige Ereignisse gut vorbereitet – in Deutschland sei das Land sogar führend. Zu diesem Zeitpunkt herrscht am Oberlauf der Ahr bereits stellenweise Land unter.

Um 16:38 Uhr erhält Bürgermeisterin Weigand den Rückruf aus der Kreisverwaltung. Den Katastrophenalarm will man dort noch nicht ausrufen, man brauche noch mehr Informationen. Weigand versucht daraufhin, das Landesamt für Umwelt zu erreichen. Ziemlich genau zu dieser Zeit, um 16:42 Uhr, veröffentlicht das Umweltministerium eine Pressemitteilung zur Hochwassersituation: „Wir nehmen die Lage ernst, auch wenn kein Extremhochwasser droht.“ Eine fatale Einschätzung, die Bürger und Medien in trügerische Sicherheit versetzt; und im Gegensatz zu den großen Flüssen Rhein und Mosel wird die Ahr im weiteren Text gar nicht erwähnt.

Gegen 17:00 Uhr wird Ministerin Spiegel im Landtag von Staatssekretär Randolf Stich (Innenministerium) darüber informiert, dass auf einem Campingplatz im oberen Ahrtal Menschen evakuiert werden müssen. Etwa um diese Zeit sucht Landrat Pföhler die technische Einsatzleitung in der Kreisverwaltung auf, kurz auch als Krisenstab bezeichnet. Dieser Krisenstab sitzt in einem Kellerraum der Kreisverwaltung, mit eingeschränktem Mobilfunkempfang. Die Mitglieder des Krisenstabes sind überwiegend ehrenamtlich tätig, viele haben vorher noch nie in einem solchen Gremium gearbeitet. Pföhler wird später erklären, er habe schon vor längerer Zeit die Verantwortung für den Katastrophenschutz an seinen Brand- und Katastrophenschutzinspekteur Michael Zimmermann delegiert – einen Ehrenamtler.

Erschwerend kommt in dieser Lage hinzu: einen Alarm- und Einsatzplan für Hochwasser hat der Landkreis Ahrweiler nicht, obwohl dieser gesetzlich vorgeschrieben ist. Wie sich später herausstellen wird, ist das nicht ungewöhnlich; es gilt für fast die Hälfte aller Landkreise in Rheinland-Pfalz. Die Aufsichtspflicht liegt in dieser Angelegenheit beim Innenministerium des Landes.

In der Verbandsgemeinde Adenau am Oberlauf der Ahr sind derweil sind derweil alle verfügbaren Kräfte im Einsatz. Wehrleiter Merten fordert bei der integrierten Leitstelle in Koblenz Hubschrauber und Boote an. Allerdings: über einen Rettungshubschrauber mit Seilwinde verfügt Rheinland-Pfalz nicht, man vertraut diesbezüglich auf die Kooperation mit dem benachbarten Bundesland Hessen. Ein Hubschrauber der Air Rescue Einheit am Nürburgring fliegt schließlich zum besonders betroffenen Campingplatz in Dorsel. In Ermangelung einer Seilwinde rettet die Hubschrauberbesatzung in Not geratene Menschen mit gewagten Manövern. Dennoch kommt es in Dorsel zu den ersten Todesopfern der Flut, darunter die junge Feuerwehrfrau Katharina Kraatz.

Um 17:17 Uhr erhöht das Landesamt für Umwelt die Hochwasservorhersage auf die höchste Warnklasse 5; auf dieser Basis könnte Landrat Pföhler jetzt definitiv den Katastrophenalarm auslösen. Gegen 17:20 Uhr erhält Bürgermeisterin Weigand dann einen Rückruf vom Landesamt – die Pegelprognose wird ihr bestätigt, woraufhin sie die Bürgermeister der Nachbargemeinden informiert. Staatssekretär Manz erhält um 17:34 Uhr Nachricht von seinem Hochwasserreferenten: die Lage in den betroffenen Gebieten spitzt sich zu.

Um 17:42 Uhr geht bei der hessischen Polizeifliegerstaffel in Egelsbach eine Anfrage aus Rheinland-Pfalz bezüglich eines Rettungshubschraubers mit Seilwinde ein. Tobias Frischholz, der gerade seinen Nachtdienst angetreten hat, organisiert einen Windenführer im rheinland-pfälzischen Städtchen Mayen – in Hessen ist gerade kein Windenführer im Einsatz. Etwa zu dieser Zeit, um 17:48 Uhr, erhält Roger Lewentz im Landtag einen Anruf. Lewentz ist ein erfahrener sozialdemokratischer Landespolitiker, amtiert seit 2011 als Innenminister und gilt als stärkste Stütze von Ministerpräsidentin Dreyer. Sein Parteifreund Thomas Linnertz, Chef der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) des Landes, informiert den Minister über die Evakuierungen am Campingplatz in Dorsel.

Die ADD, die ihren Sitz im kurfürstlichen Palais in Trier hat, wurde 2000 als Ersatz für die kurz zuvor abgeschafften Regierungsbezirke eingerichtet. Kurz nach der Flutkatastrophe wird sie sich als eine der ersten Landesbehörden bei den Menschen im Ahrtal melden. Sie fordert dann die Winzer und Landwirte auf, durch die Flut verlorengegangene Flächen zu melden – nicht etwa, um den Betroffenen zu helfen, sondern um ihre Agrarsubventionen zu kürzen…

Am Oberlauf der Ahr, in der Ortschaft Müsch, stauen sich derweil von den Wassermassen mitgerissene Campingfahrzeuge an der Brücke über die Ahr. Bürgermeister Udo Adriany wird später vor dem Untersuchungsausschuss schildern, was dann geschieht: „Irgendwann gab es einen riesigen Knall, dann war auch dieser Damm gebrochen.“

Dieses Szenario wird sich im Laufe des Abends und der Nacht an vielen Stellen wiederholen. Ich hatte vor einiger Zeit schon einmal im Text zu manchen Bildern darauf hingewiesen, dass meinem Eindruck zufolge die Zerstörungen an Uferbefestigungen und im Umfeld dort besonders stark waren, wo Brücken von der Flut abgerissen worden waren. Dies spiegelt sich nun auch in den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nieder – der Fachbegriff für das Phänomen heißt Verklausungen.

Das, was in diesen Stunden über das Ahrtal hereinbricht, ist eben kein normales, langsam ansteigendes Hochwasser. Es ist eine Flut, die sich wellenförmig weiterbewegt. Grund dafür sind zum einen Sturzfluten aus den teilweise ziemlich steilen Nebenbächen der Ahr. Hauptursache aber sind spontane Dammbildungen an den Brücken – und Brücken gibt es im Ahrtal sehr viele. Der durch den Starkregen zu einem reißenden Gewässer angeschwollene Fluss führt Unmengen von Treibgut mit sich: Wohnwagen und andere Autos, Öl- und Gastanks, Gebäudeteile. Und immer wieder auch große (und großformatige) Mengen an Holz. Durch die entstandenen Dämme wird das Wasser an einigen Engpässen bis zu zehn Meter hoch aufgestaut – bis die Brücke dann bricht und sich die Flut in den nächsten Ort ergießt. Bei diversen Wanderungen sind mir in den letzten Jahren immer wieder die großen Mengen an Totholz aufgefallen, die an der Ahr zumeist im Uferbereich, manchmal auch direkt im Fluss, herumlagen. Nun werden sie vom Wasser mitgerissen. Pikant sind in diesem Zusammenhang die Aussagen mehrerer Bürgermeister aus dem Tal. Ihnen zufolge wurde die Entsorgung dieses Totholzes immer wieder von den – dem Umweltministerium unterstellten – Naturschutzbehörden untersagt. Ich sehe hier übrigens eine Parallele zu den Waldbränden im abgelaufenen Sommer; auch dort wurde öfters auf die brandbeschleunigende Wirkung von aus vermeintlichen Naturschutzgründen liegengelassenem Totholz verwiesen.

Mittwoch, 14. Juli, am frühen Abend

Bei der integrierten Leitstelle in Koblenz, in der die telefonischen Notrufe eingehen, sind ab etwa 18:00 Uhr alle 16 Plätze belegt; an normalen Tagen sind hier nur neun Mitarbeiter im Einsatz. Genau um diese Uhrzeit gibt der Deutsche Wetterdienst bekannt, dass sich das Regengebiet in nördlicher Richtung verschiebt. Als Folge davon senkt das Landesamt für Umwelt die Prognose für den Pegel Altenahr auf 4 Meter.

Gegen 18:30 Uhr erhält Bürgermeisterin Weigand in Altenahr einen Anruf von Thomas Bettmann, einem Mitarbeiter des Landesamtes, der ihr von der abgesenkten Pegelprognose berichtet. Weigand glaubt dies nicht; sie hat den aktuellen Pegelstand auf ihrem Monitor, die Ahr steht bereits bei 4 Metern, und das mit ansteigender Tendenz. Als Naturwissenschaftlerin ist sie mit dem Verlauf von Kurven vertraut: „Gucken Sie auf diese Kurve - schon rein physikalisch müssen wir weit über vier Meter hinausschießen.“

Im Landtag erhält Staatssekretär Manz zu dieser Zeit einen Hinweis von Sabine Riewenherm, der Präsidentin des Landesumweltamtes: an der Ahr spitzt sich die Lage zu. Einige Minuten später schreibt Riewenherm in einer internen Mail: „Hier bahnt sich eine Katastrophe an.“. Auch die Pressesprecherin des Umweltministeriums weist Manz darauf hin, dass die knapp zwei Stunden zuvor herausgegebene Pressemitteilung inzwischen vom Lauf der Dinge überholt worden sei und fragt an, ob man die Formulierung nicht richtigstellen sollte. Manz antwortet: „Heute nicht.“

Gegen 18:45 Uhr wartet die Hubschrauberbesatzung in Egelsbach immer noch auf eine konkrete Anforderung aus Rheinland-Pfalz. Schließlich starten die Hessen eigenmächtig – Tobias Frischholz: „Wir haben gesagt, wir warten jetzt nicht mehr.“ Währenddessen kündigt Landrat Pföhler im Krisenstab in Ahrweiler einen anstehenden Besuch von Innenminister Lewentz an. Dieser hat sich nach dem Telefonat mit ADD-Chef Linnertz auf den Weg ins Ahrtal gemacht. Eigentlich will er nach Dorsel, aber das entpuppt sich als unmöglich. Also fährt er nach Ahrweiler.

Ab etwa 19:00 Uhr wird nun an der oberen Ahr der Ort Schuld von der Flut getroffen, der Radsportfans vielleicht durch das alte Straßenrennen Köln – Schuld – Köln bekannt ist. Mehrere Häuser werden von den Fluten mitgerissen, ebenso wie andernorts schon Autos, Tanks und dergleichen. Bürgermeister Helmut Lussi kann vom oberen Teil des Dorfes, nahe der Kirche, nur zusehen, wie das Unterdorf rasch drei Meter unter Wasser steht.

Doch in Schuld schlägt auch wieder die Stunde der Helden. Neben der örtlichen Feuerwehr ist auch eine Einheit der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft (DLRG) vor Ort. Die DLGR hat Boote, aber keine Leitern. Leitern wiederum hat die Feuerwehr. Also bildet man spontan gemischte Teams und stattet die Boote mit Feuerwehrleitern aus. Gemeinsam retten die Helfer Menschen aus den Fluten – trotz aller Zerstörungen werden in Schuld alle Einwohner gerettet.

Einige Tage später wird Bürgermeister Lussi ein paar sehr mutige Worte sprechen, die von den vielen anwesenden Medien weitgehend verschwiegen werden. Schuld hat hohen Besuch, Kanzlerin Merkel und Ministerpräsidentin Dreyer sind gekommen, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Einer der Journalisten stellt die politisch korrekte Frage nach der Rolle des Klimawandels, und was die Regierung diesbezüglich tun will. Nach Merkels Antwort, vorsichtig aber Journalismus kompatibel, ergreift Lussi das Wort, zur offensichtlichen Überraschung der Kanzlerin. Der Bürgermeister verweist auf die Chronik des Ahrtals, und besonders auf die dokumentierten Flutkatastrophen aus vorindustriellen Zeiten: „Damals gab es noch keinen Klimawandel.“

Unrecht hat Lussi mit dieser Einschätzung nicht. Der bereits erwähnte Bonner Geologe Prof. Thomas Roggenkamp und sein Kollege Jürgen Herget beschäftigen sich regelmäßig mit historischen Hochwasser- und Flutereignissen; laut ihnen war die Flut vom 21. Juli 1804 von ähnlichem Ausmaß wie die vom 14. Juli 2021. Allerdings waren damals Besiedlungsdichte und Bebauung noch nicht so hoch wie heute. Roggenkamp: „Das Hochwasser vom Juli 2021 ist als extremes, aber nicht einmaliges Ereignis einzustufen. Ähnliches hat sich bekanntermaßen bereits in vorindustrieller Zeit ereignet."

Gegen 19:00 Uhr endet in Mainz die Landtagssitzung. Staatssekretär Manz geht nach Hause, isst zu Abend, erledigt Bürosachen, schaut Nachrichten im Fernsehen, trinkt ein Bier. Zu dieser Zeit vermeldet die ADD, dass ein Hubschrauber in Hessen bereitsteht. Da ist der Hubschrauber bereits unterwegs, und die Leitstelle in Koblenz erreicht diese Information gar nicht.

Um 19:20 Uhr erscheint Innenminister Lewentz im Krisenstab in Ahrweiler. Später wird er erklären, er habe bei seinem Besuch einen konzentriert arbeitenden Krisenstab gesehen. Wie er zu dieser Einschätzung gekommen ist, bleibt allerdings rätselhaft, denn lange dauert sein Aufenthalt in Ahrweiler nicht. Ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes im Krisenstab wird mit den Worten zitiert: „Jetzt kommen die Touristen, die sich später in Funk und Fernsehen zeigen möchten.“

Bereits gegen 19:30 Uhr macht der Minister sich wieder auf den Heimweg. In diesem knappen Zeitraum ist auch das Foto mit Landrat Pföhler entstanden, das später in vielen Zeitungen abgedruckt wird. Pföhler selbst verschickt im Nachgang das Foto nebst einer Pressemitteilung. Nach 20:00 Uhr wird der Landrat in der Kreisverwaltung nicht mehr gesehen. Vor dem Untersuchungsausschuss wird später einer der ermittelnden Polizeibeamten aussagen: „Man darf davon ausgehen, dass der Landrat wusste, dass die Hochwassergefahr an der Ahr sehr hoch ist.“

Um diese Zeit verschiebt sich das Regengebiet wieder nach Süden; der Pegel Altenahr steht inzwischen bei über 4 Metern, Katwarn erhöht die Prognose wieder auf 5 Meter. Aufgrund des bereits erwähnten technischen Problems kommt auch diese Warnung in der breiten Öffentlichkeit nie an. Auch das modulare Warnsystem MoWas bleibt an diesem Abend stumm; ein Alarm über MoWas hätte weitreichende Konsequenzen, bis hin zur Unterbrechung laufender Fernseh- und Radioprogramme. Der Leitstelle in Koblenz, die anhand der eingehenden Notrufe ein ziemlich klares Bild von der ablaufenden Katastrophe hat, sind diesbezüglich jedoch die Hände gebunden; gemäß der vom Innenministerium vorgegebenen Regularien kann die Leitstelle einen Alarm erst dann auslösen, wenn sie vom betroffenen Landkreis dazu aufgefordert wird – per Fax…

Gegen 19:45 Uhr ist der Journalist Willi Willig auf dem Weg ins Ahrtal, um für den Lokalsender TV Mittelrhein zu berichten. Auf der Autobahn erkennt er auf der Gegenfahrbahn Innenminister Lewentz. Willig kennt den Minister gut, der Journalist sitzt selber für die SPD im Gemeinderat seines Heimatortes. Er ruft Lewentz an; laut seiner Schilderung, die sich großteils auch mit seinem Videobericht von der Nepomukbrücke in Rech deckt, erwähnt der Minister in dem Telefonat die Evakuierung des Campingplatzes in Dorsel und ein eingestürztes Haus in Schuld. Die Lage an der Ahr sei „katastrophal und wirklich schlimm.“ Diese Darstellung ist insoweit besonders interessant, als dass Minister Lewentz in den Folgemonaten immer wieder erklären wird, er habe in der Nacht vom Ausmaß der Katastrophe nichts mitbekommen.

Mittwoch, 14. Juli, in den Abendstunden

Gegen 20.00 Uhr fällt in Altenahr der Strom aus – allerdings ist es im Hochsommer zu dieser Zeit noch hell. Um die gleiche Zeit wird Landrat Pföhler in seinem Heimatort von mehreren Personen beim Spaziergang mit Frau und Hund gesehen. Einigen Nachbarn gegenüber äußert er seine Sorgen um sein Haus, in dessen Nähe eine Fußgängerbrücke und eine Gasleitung verlaufen. Eine weitere Zeugin wird später am Abend beobachten, wie Pföhlers Sonntagsauto, ein roter Porsche, die Garage in der Nähe seiner Zweitwohnung verlässt, die sich in der Altstadt von Ahrweiler befindet. Ebenfalls gegen acht Uhr abends macht sich Stefan Goldmann, Rettungspilot beim Automobilclub ADAC, auf den Weg ins Ahrtal – zuvor war er in der ebenfalls von Hochwasser betroffenen Stadt Rheinbach eingesetzt.

Um 20:15 Uhr steigt der Pegel Altenahr auf über 5 Meter – etwa ab hier hätte, so das Gutachten von Prof. Roggenkamp, das volle Ausmaß der Katastrophe erkannt werden können. Der Rettungshubschrauber aus Hessen erreicht zu dieser Zeit das obere Ahrtal, die Besatzung rettet mehrere Personen von Dächern und Balkons.

Um 20:36 steht der Pegel Altenahr bereits bei 5,75 Meter. Er wird etwas später, beim letzten gemessenen Stand von 6,09 Meter, von der Flut weggerissen. Die Vorhersage steht mittlerweile bei 6,90 Meter, im Laufe des späteren Abends wird die Ahr hier bis auf vermutlich über 10 Meter ansteigen. Der ADAC-Hubschrauber läuft nicht rund, um 20:52 Uhr muss Goldmann seinen Einsatz abbrechen. Zuvor macht ein Besatzungsmitglied jedoch mit dem Mobiltelefon Bilder und Videos von der Lage, und schickt diese in die Leitstelle Koblenz. Goldmann fordert auf, alle verfügbaren Kräfte zu alarmieren, um die betroffenen Menschen zu retten. Wenig später, es ist 20:56 Uhr, geht der Krisenstab in Ahrweiler in die Öffentlichkeit; über Twitter vermeldet man den alten Pegelstand von 5,09 Meter und erwähnt die Evakuierungen auf dem Campingplatz in Dorsel – Informationen also, die schon längst veraltet sind.

Gegen 21:00 Uhr spricht Bürgermeisterin Weigand, die sich selbst als ungläubig bezeichnet, den Ortsgeistlichen an, mit der Bitte, für die Menschen des Orts zu beten. Die katholische Kirche von Altenahr liegt auf einer kleinen Anhöhe – sie wird nun für Menschen geöffnet, die vor den Fluten geflohen sind. Die Leiststelle in Koblenz erhält an diesem Abend 6.000 bis 7.000 Notrufe – über 5.000 davon aus dem Ahrtal. Die Mitarbeiter sind am Limit, einige benötigen angesichts der dramatischen Gespräche psychologische Hilfe. Im Laufe des Abends wird eine harte Entscheidung getroffen; da man den Menschen an der Ahr angesichts der Wucht der Flut ohnehin kaum noch helfen kann, werden Notrufe aus dem Kreis Ahrweiler fortan mit niedrigerer Priorität behandelt als solche aus anderen Landesteilen.

Um 21:26 Uhr schickt der Hochwassermeldedienst des Landesumweltamtes eine automatische Email an den Krisenstab in Ahrweiler – Inhalt ist die Prognose von 6,90 Meter für Altenahr. Fast zur gleichen Zeit, um 21:29 Uhr, erwähnt das Einsatztagebuch der Koordinierungsstelle der ADD den Einsturz von Häusern in Schuld und dem benachbarten Insul. Dennoch wird der Leiter der Koordinierungsstelle, Fabian Schicker, im Untersuchungsausschuss erklären, die Lage an der Ahr sei ihm nicht dramatischer erschienen als die in anderen betroffenen Gebieten – obwohl von dort keine eingestürzten Häuser vermeldet wurden. Der Verfassungsrechtler Bernd Grzeszick wird in einem Gutachten später darauf verweisen, dass der ADD genügend Hinweise vorlagen, um die Einsatzleitung von sich aus an sich zu ziehen. Zudem hätte die Behörde ab Warnklasse 5 einen Führungsstab bilden müssen; dies unterbleibt in dieser Nacht aber.

Um diese Zeit ist Landrat Pföhler wieder in seiner Nachbarschaft unterwegs, und kündigt an, alle Gebiete 50 Meter links und rechts der Ahr würden evakuiert. Einen entsprechenden Beschluss wird der Krisenstab erst später fassen, und noch später kommunizieren. ADAC-Pilot Goldmann kontaktiert derweil die Zentrale des Clubs in München. Dort sitzt gerade der Führungsstab der Luftrettung zusammen, und auf Basis von Goldmanns Schilderungen und Bildern trifft man schnelle Entscheidungen. Am nächsten Morgen kommen weitere ADAC-Hubschrauber ins Ahrtal und retten 36 Menschen.

Um 21:35 Uhr erteilt das Lagezentrum des Innenministeriums der Landespolizei einen Auftrag; ein Hubschrauber soll einen Aufklärungsflug über dem Ahrtal durchführen. Hintergrund sind die Meldungen über weggerissene Häuser in Schuld. Für die Besatzung des Rettungshubschraubers aus Egelsbach werden Wetter und Sicht derweil zu schlecht für weitere Einsätze, sie kehren nach Hessen zurück. Zu dieser Zeit, es ist 21:42 Uhr, erhält Innenminister Lewentz eine SMS von Marieluise Dreyer. Die Ministerpräsidentin möchte wissen, ob und inwieweit Umweltministerin Spiegel über die Lage in den Flutgebieten informiert sei. Lewentz antwortet: „Das weiß ich garnicht, sie hat ein eigenes Lagesystem.“ Man werde die Kabinettskollegin am nächsten Morgen informieren. Dreyers knappe Reaktion: „Ok. Schönen Abend.“ Polizeihauptkommissarin Marita Simon tritt derweil ihren Dienst im Polizeipräsidium Koblenz an, wird sehr rasch über die in Schuld weggerissenen Häuser informiert. Zudem liegen in Koblenz bereits die Videos des ADAC-Piloten vor. Simon wird vor dem Untersuchungsausschuss sagen: „Das Innenministerium hat das alles erfahren.“

Weiter zu Teil 2.