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Mittwoch, 14. Juli, ab 22 Uhr

An der unteren Ahr ist zu dieser Zeit noch alles ruhig, nichts deutet für die Bewohner auf die nahende Katastrophe hin. Stromaufwärts, in Altenahr, telefoniert Bürgermeisterin Weigand erneut mit Thomas Bettmann vom Landesumweltamt. Sie berichtet ihm von der dramatischen Lage: Autos schwimmen in den Fluten. Das Mobilfunknetz funktioniert noch, wenn auch wacklig und mit Unterbrechungen. Den Landrat kann Weigand immer noch nicht erreichen, der Katastrophenalarm bleibt immer noch aus.

Der Polizeihubschrauber fliegt währenddessen das Ahrtal ab, beginnend bei der Mündung. Der Unterlauf des Flusses ist, wie erwähnt, noch nicht betroffen. Aber ab der Ortslage Dernau im mittleren Ahrtal werden die Eindrücke immer schlimmer. Pilot Ingo Braun, schon seit langer Zeit im Polizeidienst: „Eine solche Lage habe ich noch nie erlebt.“ Die Arbeitsbedingungen der Besatzung sind alles andere als optimal, Nebel und Regen erschweren die Sicht. In den überfluteten Orten stehen viele Menschen auf den Dächern ihrer Häuser, winken um Hilfe, geben Lichtzeichen. Bei mehreren Aufklärungsflügen in dieser Nacht wird die apokalyptische Situation auf Videos festgehalten. Nach dem Einsatz werden die Filme auf externe Datenträger gebrannt und weitergegeben; Innenminister Lewentz wird im September 2022 behaupten, sie vorher noch nie gesehen zu haben. Da sind die Videos auf beharrliches Nachfragen eines oppositionellen Mitglieds des Untersuchungsausschusses wieder aufgetaucht.

Jetzt endlich, um 22:04 Uhr, meldet sich Landrat Pföhler telefonisch beim Krisenstab. Nach seinem Gespräch mit Katastrophenschutzinspektor Zimmermann wird der Katastrophenalarm ausgelöst, die Anwohner sollen die Seitenräume der Ahr verlassen. An die Öffentlichkeit kommuniziert wird dieser Beschluss jedoch erst eine Stunde später werden. In Altenahr werden zu dieser Zeit die Hotels evakuiert; der Ort lebt weitgehend vom Fremdenverkehr, mehrere hundert Urlauber befinden sich vor Ort. Ein Fahrzeug der Feuerwehr wird von den Fluten eingeschlossen, zwei Personen harren die ganze Nacht auf dem Dach des Fahrzeugs aus. Bürgermeisterin Weigand erhält die Information, dass Rettungshubschrauber aufgrund des Wetters nicht starten dürfen.

Um 22:15 Uhr erhält Oberfeldarzt Dennis Ritter vom Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz einen Anruf der Leitstelle. Umgehend organisiert er Hilfe; das Landeskommando der Bundeswehr in Mainz wusste bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der Katastrophe. Wenige Minuten später, um 22:19 Uhr, wird Staatssekretär Manz zuhause von Bettmann angerufen, der von dem aufwühlenden Telefonat mit Bürgermeisterin Weigand berichtet. Die beiden Männer mutmaßen, ob vielleicht ein übergelaufenes Rückhaltebecken die Ursache des hohen Wasserstandes sein könnte. Landrat Pföhler warnt derweil einige Nachbarn: „Wir müssen evakuieren.“ Dabei erwähnt er die von den Fluten zerstörten Häuser in Schuld.

Nach dem Telefonat mit Bettmann versucht Manz um 22:24 Uhr vergeblich, Umweltministerin Spiegel zu erreichen. Die Ministerin hatte mit dem Fraktionschef der Grünen zu Abend gegessen und befindet sich nun, wie sie später behaupten wird, in ihrer Dienstwohnung in Mainz. Gegen 22:30 Uhr ruft Hauptkommissarin Simon im Lagezentrum des Innenministeriums an und schildert die apokalyptische Situation an der Ahr. Vor dem Untersuchungsausschuss wird sie später aussagen: „Wenn sechs Häuser weggerissen werden, und man mit toten Menschen rechnen muss, dann ist das ja schon eine Katastrophe.“ Wenig später geht bei Anne Spiegel eine Email von Bettmann ein, der sie über das Gespräch mit Weigand informiert. Landrat Pföhler schreibt derweil eine Email an eine gute Bekannte: „Hoffentlich stürzt das Haus nicht ein.“ Gegen 22:45 Uhr erfolgt angeblich ein Rückruf Spiegels bei ihrem Staatssekretär Manz; dieser Anruf ist jedoch weder bei der Ministerin noch bei Manz protokolliert. Danach, so wird Spiegel später angeben, telefoniert sie, hauptsächlich mit dem grünen Fraktionschef, und sucht im Internet nach Informationen zur Flut. Nichts davon ist wirklich belegbar.

In Ahrweiler wird gegen 23:00 Uhr ein silbernes Fahrzeug, das der Familie Pföhler gehört, beim Verlassen seiner Nachbarschaft gesehen. Staatssekretär Manz schickt eine Email an seinen Kollegen Stich vom Innenministerium: „Hallo Randolf, wir hatten einen dramatischen Notruf aus Altenahr, hoffentlich kommt diese Nacht niemand zu Schaden.“ Um 23:09 kommuniziert der Krisenstab nun den Katastrophenalarm über KatWarn; der dafür zuständige Mitarbeiter war vorher selber für die Feuerwehr im Einsatz, andere Mitglieder des Krisenstabs können den Alarm nicht auslösen. Die Evakuierung aller Häuser in einer Entfernung von bis zu 50 Metern vom Fluss wird für die Bereiche Bad Neuenahr-Ahrweiler, Bad Bodendorf und Sinzig angeordnet – viel zu spät und auch alles andere als hinreichend, was die Entfernung angeht. Landrat Pföhler verfasst wenige Minuten später einen Lagebericht: „Die Lage ist sehr ernst. Es besteht Lebensgefahr!“

In Altenahr steigt das Wasser ab etwa 23:30 Uhr nicht mehr. Zu diesem Zeitpunkt informiert Thomas Kreutz, Flugtechniker im Polizeihubschrauber, das Lagezentrum im Innenministerium über die dramatische Lage an der Ahr. Er fordert, alle verfügbaren Polizeikräfte in das Ahrtal zu schicken, und sendet per Mail Fotos aus den Ortslagen Altenahr, Liers und Schuld. Auch das Polizeipräsidium Koblenz schildert dem Ministerium gegenüber die Dramatik der Situation. Die Beamten im Lagezentrum verlangen aber schriftliche, regelmäßig aktualisierte Berichte über das sperrige System der Polizei, inklusive angehängter PDF-Dateien.

Um 23:42 Uhr erreicht Bürgermeisterin Weigand endlich Landrat Pföhler; dieser scheint jedoch mehr über die Räumung seines eigenen Hauses in Ahrweiler besorgt zu sein, als dass er sich für die Lage andernorts interessiert. Wenig später, es ist 23:46 Uhr, landet die Mail mit den Fotos des Polizeihubschraubers bei Roger Lewentz. Der Innenminister wird später im Untersuchungsausschuss behaupten, die Bilder hätten nur punktuelle Informationen enthalten, aber kein Lagebild über das gesamte Tal.

Kurz vor Mitternacht erreicht die Flut schließlich Ahrweiler. Und wenn einer der Bewohner des Ahrtals dazu prädestiniert ist, in Krisensituationen Ruhe zu bewahren, dann ist dies wohl Andy Neumann. Der Polizeibeamte arbeitet in einer Antiterroreinheit der Bundespolizei. Die Lautsprecherdurchsagen der Feuerwehr, man solle in Flussnähe Keller und Tiefgaragen meiden, hat er nur beiläufig registriert. Sein Haus ist mehrere hundert Meter vom Flussufer entfernt, und einen Keller hat es nicht. Nun jedoch, es ist 23:58 Uhr, sieht er vor seinem Haus Autos, die sich mühsam gegen die Wassermassen ankämpfen. Vermutlich um diese Zeit herum ertrinken in der Tiefgarage am Markt von Ahrweiler zwölf Menschen.

Donnerstag, 15. Juli, nach Mitternacht

Kurz nach Mitternacht erreicht Bürgermeisterin Weigand ein telefonischer Hilferuf des Ortsbürgermeisters von Mayschoß. Er hat sich mit seiner gehbehinderten Schwiegermutter auf das Dach einer Scheune gerettet, die beiden sitzen dort fest, und er fürchtet die Scheune könne durch den Druck der Fluten einstürzen. Cornelia Weigand kann ihm nicht helfen: „Es kommen keine Hubschrauber, halten Sie durch.“ Die Scheune hält stand, die beiden überleben. Doch in der Verbandsgemeinde Altenahr verlieren in der Flut 39 Menschen das Leben.

Um 0:22 Uhr telefoniert Landrat Pföhler mit ADD-Chef Linnertz. In dem Gespräch geht es vermutlich um ein Notstromaggregat, das nach einem Wassereinbruch im Krankenhaus von Bad Neuenahr benötigt wird. Andere Gesprächspunkte sind nicht bekannt. Pföhler, gegen den die Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung ermittelt, wird vor dem Untersuchungsausschuss von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen. Und Linnertz kann sich an den genauen Inhalt des Gesprächs angeblich nicht mehr erinnern.

Um 0:30 Uhr startet der Polizeihubschrauber einen weiteren Aufklärungsflug. Nun stehen auch weite Teile des unteren Ahrtals unter Wasser, im Polizeifunk wird bereits über Leichensäcke gesprochen. Das Innenministerium in Mainz wird bis September 2022 behaupten, von einer flächendeckenden Katastrophe nichts bemerkt zu haben. Es ist dies ziemlich genau der Zeitpunkt, als diese Katastrophe unseren Wohnort Bad Neuenahr erreicht, oder genauer gesagt: unsere Residenz. Wir wohnen in einem Komplex aus drei Gebäuden, die in der Form eines L an einer Kreuzung arrangiert sind. Das Haus, in dessen zweitem Stock sich unsere Wohnung befindet, bildet dabei die kurze Seite des L.

In einem der Gebäude, die die lange Seite des L bilden, wohnt Johanna Orth im Erdgeschoss. Vom Namen her kannten wir sie genauso wenig wie die anderen Bewohner der anderen beiden Häuser. Man sah sich ab und zu in der gemeinsam genutzten Tiefgarage, nickte sich freundlich zu, was man eben bei so einem Zufallstreffen in der Garage macht. Die 22jährige Konditorin absolviert gerade eine betriebswirtschaftliche Zusatzqualifikation. Danach möchte sie in Bad Neuenahr, ihrer Heimatstadt, ein Patisserie-Geschäft eröffnen.

Nun, gegen 0:30 Uhr, ruft die junge Frau in Todesangst ihre Eltern an, die sich gerade auf Mallorca in Urlaub befinden. Johanna Orth ist, wie so viele Menschen an der unteren Ahr, von der Flut im Schlaf überrascht worden. Das Wasser steht bereits kniehoch in ihrer Wohnung, und der Druck des Wassers ist so stark, dass sie die Wohnungstür nicht mehr öffnen kann. Die Eltern versuchen sie zu beruhigen, verweisen auf die Tür zur Terrasse. Dann bricht das Gespräch ab.

Ob Johanna Orth die Terrassentür öffnen konnte, wird man nie erfahren. Ich bezweifle dies; in den Wohnungen unserer Residenz gibt es keine Fenster im eigentlichen Sinne, lediglich Glastüren vom Boden bis zur Decke. Auch die werden wohl von dem Wasserdruck zugehalten worden sein. Im Verlauf der Nacht hören meine Frau und eine Nachbarin, die aus dem ersten Stock hochgekommen ist, wie mit lautem, explosionsartigem Knallen die Glastüren im Erdgeschoss vom Wasser herausgesprengt werden. Was auch immer geschehen ist – am übernächsten Tag wird man Johanna Orths Leiche in der Tiefgarage finden. Und sie ist nicht das einzige Opfer in der Straße – in einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite macht eine gehbehinderte ältere Frau noch mit Lichtzeichen auf sich aufmerksam. Aber da ist die Strömung schon viel zu stark, um sie aus dem Haus herauszuholen.

Um 0:50 Uhr schreibt Landrat Pföhler an eine Vertraute: „Katastrophe, Tote, Menschen auf Dächern, keine Hubschrauber, Stromausfälle. Unser Haus ist geflutet, ich bin am Ende.“ Zu dieser Zeit geht ein schriftlicher Bericht der Besatzung des Polizeihubschraubers an das Innenministerium; dieses Dokument wird dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss erst im September 2022 vorgelegt werden.

Wenig später, es ist 0:58 Uhr, verfasst Innenminister Lewentz eine SMS an Ministerpräsidentin Dreyer: „In Schuld sind sechs Häuser eingestürzt, weitere Einstürze drohen, es kann/könnte Tote geben. Unsere Hubschrauber flogen darüber, sahen Taschenlampenzeichen, konnten aber nicht herunter gehen.“ Er sagt, dass er die Bundeswehr einschalten will. Da ist das Militär schon vor Ort, gegen 1:00 Uhr erreichen die von Oberfeldarzt Ritter organisierten Einheiten das Ahrtal. Dort hat niemand einen Überblick über die Lage, am allerwenigsten der Krisenstab.

Gegen 1:30 Uhr ruft Andy Neumann bei der Feuerwehr an – da sind die Wassermassen bereits in das Haus der Familie eingedrungen. Neumann, seine Frau und die beiden Kinder befinden sich im Obergeschoss, das Wasser steht nur noch fünf Treppenstufen entfernt. Der erfahrene Polizeibeamte hat Angst – was, wenn die Fluten noch weiter steigen? Der Mann von der Feuerwehr gibt Rat: wenn nur noch drei Stufen übrig sind, soll die Familie ins Dachgeschoss gehen. Falls auch das nicht reicht, muss Neumann versuchen, mit seiner Familie auf das Dach zu kommen. Eine Evakuierung wird es nicht geben, soviel ist klar.

Kurz nach der Flut wird Neumann seine Erfahrungen in einem Buch niederschreiben, dem ein Jahr später ein zweites Buch folgen wird. Bei einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Flut wird Andy Neumann den Bewohnern des Ahrtals aus dem Herzen sprechen, indem er von den politisch Verantwortlichen fordert, sich bei den Menschen an der Ahr zu entschuldigen.

Die Organisation Lebenshilfe betreibt in Sinzig, kurz vor der Ahrmündung gelegen, ein Wohnheim für geistig behinderte Menschen. Das Heim besteht aus zwei Gebäuden, die etwa 250 Meter voneinander entfernt liegen. Trotz dieses Umstands hat nachts nur ein einziger Mitarbeiter Wachdienst – dies ist schon bei Brandschutzkontrollen moniert worden. Ein Antrag auf Finanzierung einer zweiten Nachtwache ist jedoch vom Sozialministerium des Landes abgelehnt worden.

Es gibt sehr unterschiedliche Aussagen zum Ablauf der Tragödie, die sich in dieser Nacht im Wohnheim ereignet. Das Ergeschoss des Haupthauses liegt ziemlich tief. Mitarbeiter der Feuerwehr behaupten, sie hätten gegen 2:00 Uhr auf die Evakuierung des Erdgeschosses gedrängt, und der Mitarbeiter der Nachtwache habe erklärt, sich darum zu kümmern. Dieser Darstellung wird seitens des Mitarbeiters widersprochen.

Was auch immer genau passiert: im Laufe der Nacht bringt die Nachtwache vier Bewohner in das andere Gebäude. Als er wieder zum Haupthaus gehen will, ist die Strömung schon zu stark. Als sich um 3:15 Uhr eine Feuerwehreinheit aus Remagen bis zum Gebäude durchkämpft, steht das Erdgeschoss schon komplett unter Wasser. Zwölf Bewohner des Heims haben in den Fluten ihr Leben verloren. Insgesamt sterben an der Ahr in den Stunden der Flut 134 Menschen; weit mehr als die Hälfte davon am Unterlauf des Flusses, im Gebiet der Städte Bad Neuenahr-Ahrweiler und Sinzig.

Donnerstag, 15. Juli, in den Morgenstunden

Im überfluteten Ahrtal harren Menschen auf Dächern, teilweise auch auf Bäumen aus, so wie die beiden Töchter des bekannten Winzers Werner Näkel, und warten auf Rettung. Um 5:58 Uhr geht bei Umweltministerin Spiegel eine Mail von Ministerpräsidentin Dreyer ein: „Liebe Anne, die Lage ist heute Nacht eskaliert, du hast sicher schon von deinen Leuten einen Bericht.“ Spiegel antwortet erst mal nicht.

Gegen 7:00 Uhr fordert Oberfeldarzt Dennis Ritter Hubschrauber der Bundeswehr an. In der Nacht haben er und seine Leute mehrere Menschen aus einem Hotel gerettet. Danach hat sich Ritter mit einer Gruppe von Militärangehörigen durch die Weinberge bis oberhalb von Dernau durchgearbeitet – der Weg über die Straße im Ahrtal war unpassierbar. Von oben sieht Ritter das ganze Elend; Dernau steht komplett unter Wasser. Anne Spiegel antwortet derweil auf Dreyers Mail: „Meine Leute überlegen, ob ich nicht raussollte.“ Damit meint die Ministerin: raus an die Ahr, Präsenz zeigen. Um 7:52 Uhr versucht ihr Staatssekretär Manz vergebens, seine Ministerin anzurufen.

Fast zur gleichen Zeit, es ist 7:54 Uhr, meldet sich der stellvertretende Regierungssprecher Dietmar Brück im internen Chat des Umweltministeriums: „Die Starkregenkatastrophe wird das beherrschende Thema in dieser Woche sein. Anne braucht eine glaubwürdige Rolle.“ Und weiter: „Anne bei Reparaturarbeiten, bei Hochwasserschutzprojekten, dort wo neue Gefahren drohen.“ Wenig später meldet sich Ministerin Spiegel mit einer zustimmenden Nachricht: „Wir brauchen ein Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben, ich im Kabinett.“ Ihrem Kabinettskollegen Lewentz traut sie zu, die Schuld an der Katastrophe dem Umweltministerium zuzuschieben.

Bei Lewentz meldet sich später am Morgen, um 9:53 Uhr, Ministerpräsidentin Dreyer mit einer Anfrage: „Olaf hat sich gemeldet. Er fragt, was Sinn macht. Ob er irgendwo hinkommen kann und soll?“ Mit Olaf ist natürlich Olaf Scholz gemeint, seinerzeit Bundesfinanzminister und, wichtiger noch, Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten. Er kommt im Nachgang der Flut ins Ahrtal, macht dabei im Gegensatz zu seinem christdemokratischen Gegenkandidaten Armin Laschet, der bei einem Besuch in den Flutgebieten entlang der Erft lachend fotografiert wird, ein ernstes Gesicht und gewinnt im Herbst die Bundestagswahl.

Der weitere Verlauf der Dinge

Noch am Abend des 15. Juli wird das Videomaterial von den Aufklärungsflügen im Auftrag des Innenministeriums an das Polizeipräsidium Koblenz übergeben, der Vorgang ist ordnungsgemäß dokumentiert. Seither ist das Material verschollen; die dem Untersuchungsausschuss viel später übergebenen Videos stammen von der Hubschrauberbesatzung selbst. Bezüglich des späten Auftauchens der Videos beruft sich das Innenministerium auf Kommunikationsfehler bei der Polizei.

In den Wochen und Monaten nach der Flut kommt es im Ahrtal zu einem Phänomen, das Hoffnung macht – für das Tal, für das Land, vielleicht sogar für die Menschheit. Die Hilfsbereitschaft ist enorm. Es sind auffällig viele Selbständige, die schon in den ersten Tagen in unser Tal kommen: Landwirte, Bauunternehmer, Handwerker, Fuhrunternehmer. Sie kommen mit ihren Fahrzeugen und Maschinen, um bei den Aufräumarbeiten mitzuhelfen. Andere verteilen Trinkwasser und Nahrungsmittel. Zwei örtliche Eventmanager organisieren einen Shuttle, der von der oberhalb des Tals gelegenen Gemeinde Grafschaft aus die zahllosen freiwilligen Helfer genau an die Orte bringt, an denen Hilfe gerade am nötigsten ist. Und es sind in der Tat zahllose Menschen von nah und fern, die Wochenenden und Urlaubstage opfern, um im Ahrtal mit anzupacken. Und die dabei Freunde gewinnen. Auf einem Haus in Dernau habe ich eine Aufschrift gesehen, angelehnt an den Werbespruch einer Dating-Plattform: „Alle elf Minuten verliebt sich ein Helfer ins Ahrtal.“

Die staatliche Obrigkeit gibt im Vergleich zur Zivilgesellschaft dagegen ein eher schwaches Bild ab. Das Schreiben der ADD an die Winzer und Bauern habe ich bereits erwähnt. Eine kleine persönliche Begebenheit mag in Bezug auf staatliches Handeln nach der Flut als anekdotische Evidenz dienen. Während unseres temporären Exils in Koblenz bin ich regelmäßig in Bad Neuenahr; bei einem dieser Besuche versuche ich, die Verpflegungsstelle ausfindig zu machen, um für eine noch im Haus ausharrende Nachbarin eine warme Mahlzeit zu organisieren. Von dieser Verpflegungsstelle hatte ich gehört, und unweit unseres Hauses läuft mir dann eine Gruppe von Polizeibeamten über den Weg. Ich spreche sie an, und gehe davon aus, dass gerade die Vertreter der Obrigkeit ja am ehesten Bescheid wissen sollten. Die Beamten können mir gar nicht helfen – sie kommen aus einer anderen Stadt und kennen sich in Bad Neuenahr überhaupt nicht aus. Ein ortsansässiger Passant kann mir dann weiterhelfen, und später frage ich mich: welchen Sinn macht es, ortsfremde Polizisten anzufordern, ohne ihnen einen ortskundigen Kollegen zur Seite zu stellen? Mein Eindruck: diese Polizisten liefen durch unsere Stadt wie kopflose Hühner.

Während also die Zivilgesellschaft funktioniert – die wahre Zivilgesellschaft, nicht die politisch herangezüchtete – und tausende von Helfern die Ärmel hochkrempeln, ist eine Person in diesen Wochen auffällig unsichtbar: Umweltministerin Anne Spiegel. Dies verwundert, denn einige der im Ahrtal zu lösenden Probleme berühren durchaus ihr Ressort – die Wiederherstellung der Abwasserentsorgung zum Beispiel. Journalisten, die im Ministerium diesbezüglich nachfragen, erhalten Erklärungen unter der Hand: die Ministerin wolle "sich zurückhalten" und "den Arbeiten nicht im Weg stehen".

Erst viele Monate später wird die Wahrheit ans Licht kommen; da hat Spiegel bereits die nächste Karrierestufe erreicht, amtiert in der Bundesregierung als Familienministerin. Am 24. Juli, gerade einmal zehn Tage nach der Flut, tritt Anne Spiegel mit ihrer Familie einen Urlaub in Südfrankreich an. Nicht für ein paar Tage, wie ihre Amtskollegin im benachbarten Nordrhein-Westfalen, die daraufhin aufgrund der öffentlichen Entrüstung zurücktreten muss. Nein, Umweltministerin Spiegel macht vier Wochen lang Urlaub, unterbrochen lediglich für zwei kurze Präsenztermine.

Am 10.04.2022 wird Spiegel versuchen, in einer bizarren Pressekonferenz ihr Handeln zu erklären. Ihre Familie habe den Urlaub dringend gebraucht – ihr Mann ist gesundheitlich angeschlagen, hat zwei Jahre zuvor einen Schlaganfall erlitten, und ihre Kinder seien nur schlecht durch die Zeit der Corona-Einschränkungen gekommen. Was Letzteres angeht: sehr viele Kinder in Deutschland haben in dieser Zeit gelitten, Kindergärten und Schulen waren lange geschlossen, das soziale Leben gerade der Kinder massiv eingeschränkt. Und viele Eltern standen vor der Herausforderung, neben der Arbeit im Home Office auch noch die Kinder zu betreuen – Eltern, die nicht über die Möglichkeiten einer gut bezahlten Ministerin verfügten. Und es sei auch darauf verwiesen, dass Spiegel derjenigen Partei angehört, deren Vertreter sich unter dem Schlagwort „Zero Covid“ oftmals als Befürworter noch schärferer Maßnahmen hervortaten. Bezüglich Spiegels Mann verweise ich nur auf das Beispiel Franz Müntefering, langjähriger Bundesminister in den Regierungen Schröder und Merkel, der 2007 von allen Ämtern zurücktrat, um seiner schwer erkrankten Frau zur Seite zu stehen. So sieht charakterliche Größe aus.

Auch in einem weiteren Punkt wird Spiegel in der Pressekonferenz zurückrudern müssen. Sie hatte einer Zeitung gegenüber erklärt, sie sei während des Urlaubs immer erreichbar gewesen und habe an allen Kabinettssitzungen per Video teilgenommen. Dies muss sie nun zurücknehmen, sie habe „das noch mal überprüft“. In Wahrheit hat sie an keiner einzigen der vielen Sitzungen teilgenommen. Kurz nach diesen Statements muss Spiegel vom Amt zurücktreten. Auch ihre beiden Staatssekretäre waren übrigens in den Wochen nach der Flut in Urlaub. Erwin Manz ist immer noch im Amt; im Untersuchungsausschuss erklärt er seine Passivität während der Flutnacht so: „Die Regularien müssen ganz, ganz streng beachtet werden.“ Und danach war eben das Innenministerium für den Katastrophenschutz zuständig, und nicht Manz. Seine damalige Kollegin Katrin Eder amtiert inzwischen als Umweltministerin in Rheinland-Pfalz.

Gegen Landrat Pföhler und seinen Katastrophenschutzinspektor Zimmermann ermittelt, wie bereits erwähnt, die Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen. Am 11.08., knapp einen Monat nach der Flut, meldet Pföhler sich krank. Von Amt zurücktreten will er nicht, damit würde er seine Pensionsansprüche riskieren. Im Oktober 2021 wird der Landrat in den Ruhestand versetzt. Bei der anstehenden Neuwahl im Januar 2022 wird Bürgermeisterin Cornelia Weigand bereits im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit zur neuen Landrätin des Landkreises Ahrweiler gewählt.

Als am 23.09.2022 die Videos des Polizeihubschraubers erstmalig im Untersuchungsausschuss auftauchen, steigt der Druck auf Innenminister Lewentz. Auch der Staatsanwaltschaft war die Existenz dieser Videos bis dahin unbekannt. In den Folgetagen agiert Lewentz für einen derartig erfahrenen Politiker überraschend ungeschickt und hölzern. Als er erklärt, auch eine etwaige Kenntnis der Videos hätte ihn in der Nacht nicht zu anderem Handeln bewegt, ist der Minister nicht mehr haltbar. Unmittelbar vor einer Parlamentssitzung, in der sein Agieren in der Flutnacht zum Thema geworden wäre, tritt auch er vom Amt zurück. Auf die Frage der Medien, ob ihr Innenminister sie in der Flutnacht hinreichend informiert habe, verweigert Ministerpräsidentin Dreyer die Antwort.

Auch die vielen, im Rahmen des Untersuchungsausschusses offengelegten neuen Erkenntnisse haben die Staatsanwaltschaft bislang nicht dazu bewegen können, die Ermittlungen auszuweiten. Sie ermittelt nach wie vor lediglich gegen die beiden örtlichen Verantwortlichen Pföhler und Zimmermann, nicht aber gegen damalige Entscheidungsträger auf der Landesebene. Nun sind Staatsanwaltschaften in Deutschland keine unabhängigen Behörden. Staatsanwälte werden hierzulande nicht gewählt, sondern sind weisungsgebundene Organe der Exekutive; weisungsbefugt ist das jeweilige Justizministerium, im Fall der Staatsanwaltschaft Koblenz also der Justizminister von Rheinland-Pfalz.

Indessen steht das Ahrtal vor dem zweiten Winter nach der Flut. Viele Häuser sind immer noch unbewohnbar. Beim Einkaufen kommen wir bisweilen an einer Siedlung sogenannter „Tiny Houses“ vorbei, wie der Name sagt sehr kleinen Häusern mit einer Wohnfläche von 30 Quadratmetern. Dort leben immer noch Menschen, deren Haus nicht nutzbar ist.

Von den bereitstehenden 15 Milliarden Euro, die für die Behebung der Schäden gedacht sind, ist bislang gerade mal eine halbe Milliarde ausgezahlt worden. Die Beantragung ist sehr kompliziert und stellt selbst die lokalen Verwaltungen vor gewaltige Probleme, die sie mit ihrem Personalbestand kaum bewältigen können. Denn auch für die Finanzierung von Reparaturen an Straßen und anderen Teilen der öffentlichen Infrastruktur müssen die Gelder über diesen Weg beantragt werden. Umso komplizierter ist dies natürlich für die vielen privaten Flutgeschädigten. Und bei der landeseigenen Investitionsbank ISB stapeln sich die Anträge; es wäre wohl sinnvoller gewesen, man hätte diese Aufgabe der weitaus größeren, bundeseigenen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) übertragen.

Es liegt also noch verdammt vieles im Argen hier im Ahrtal. Ja, es gibt Fortschritte, aber die sind sehr langsam, und bei Spaziergängen komme ich selbst bei uns in Bad Neuenahr immer wieder an Häusern vorbei, die so aussehen wie kurz nach der Flut. Und in den kleineren Orten stromaufwärts sieht es noch schlimmer aus. Auf die von Andy Neumann geforderten Worte der Entschuldigung warten die Menschen im Ahrtal bis heute.