I.

Im Jahre des Herrn 1240, an Matthäi, besiegte das Volk der alten und stolzen Stadt Marßen das Heer seines Landesherrn, Herzogs Siegbert I. in der Schlacht am Uelemer Bruch. Es bewerkstelligte dies natürlich nicht allein. Der Umstand, dass es bei der besagten Schlacht keinesfalls um eine Auseinandersetzung zwischen städtischer Freiheit und landesherrlicher Tyrannei ging, sollte dem Selbstwertgefühl der späteren Freien Reichsstadt Marßen jedoch genauso wenig abträglich sein wie die vergleichsweise geringe Bedeutung, die sowohl die meisten zeitgenössischen Chronisten als auch Generationen von Historikern der Beteiligung der Marßener Bürgerschaft an der Schlacht am Uelemer Bruch beimaßen. Über Jahrhunderte hinweg war das Geschichtsbild der Marßener eindeutig: die Bürger hatten gewonnen, und der Herzog stand ohne Hauptstadt da. Punkt!
Und in der Tat mussten die Nachfahren des unseligen Siegbert in den folgenden gut 300 Jahren ihr Land von wechselnden Städtchen aus regieren. Erst im späten 16. Jahrhundert setzte sich schließlich das beschauliche, etwa zwanzig Kilometer südlich der Marßener Stadtmauer gelegene Bliesfeld als permanente Residenz der Herzöge von Marßen durch. Und es sollte auch noch weitere fast hundert Jahre dauern, bis Herzog Johann Friedrich III. – auch bekannt als der schöne Fritz – den italienischen Baumeister Giampiero Cestonaro beauftragte, ihm an der Stelle einer bereits verfallenden alten Wasserburg ein prachtvolles Schloss zu errichten, das bis heute als eine der schönsten barocken Schlossanlagen Mitteleuropas gilt. Dass Johann Friedrich III. mit dem Bau von Schloss Friedrichsruh die Finanzen seines eigentlich recht wohlhabenden Landes gründlich ruinierte, wurde ihm bereits von seinen Zeitgenossen generös verziehen, brachte der Herzog doch ein Maß von Glanz an den Bliesfelder Hof, wie man es ansonsten nur von weit mächtigeren Herrschaften gewohnt war. Spätere Generationen von Bliesfeldern hielten den schönen Fritz erst recht in bester Erinnerung, denn sein Schloss lockte Jahr für Jahr Scharen von Touristen in die Stadt, und spülte somit viel Geld in die Taschen ihrer Hoteliers, Gastwirte und anderer Geschäftsleute.
Gut einen Kilometer Luftlinie von Schloss Friedrichsruh entfernt liegt seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Cestonarostraße. Den meisten ihrer heutigen Bewohner dürfte der Namensgeber der Straße genauso unbekannt sein wie die Geschichte der Stadt und des Herzogtums generell, was teils wohl daran liegt, dass historische Kenntnisse nicht mehr unbedingt zum Kanon der Allgemeinbildung gezählt werden. Zudem wurden die meisten der schon recht baufälligen Häuser der Cestonarostraße Anfang der 1970er Jahre von einer der großen Marßener Baugesellschaften aufgekauft, flugs abgerissen und durch sechsstöckige Apartmentblocks ersetzt. Auch wenn die Straße dem Schicksal vieler etwa gleichalter Siedlungen, die heute den unschönen Stempel „sozialer Brennpunkt“ tragen, entging, so ist sie doch eine eher anonyme Schlafstätte, deren Bewohner, wie bereits erwähnt, zumeist keine engere Bindung zu Bliesfeld und dessen Geschichte entwickeln.
Markus Delamotte blickte ungeduldig in Richtung der Einmündung der Cestonarostraße in die Baassemer Straße. Im Gegensatz zum Gros seiner baldigen Nachbarn kannte Delamotte die Bliesfelder Geschichte recht gut, und der Name Giampiero Cestonaro war ihm natürlich ein Begriff. Zum einen war Delamotte ein gebürtiger Bliesfelder; zum anderen hatte sein Großonkel, der damalige Landrat Johannes Baptist Morenhoven, zu den schärfsten und wortgewaltigsten Widersachern des Anschlusses gehört, als den viele Bliesfelder die 1970 erfolgte Eingemeindung nach Marßen empfunden hatten. Und für den kleinen Markus war Onkel Jean ein wandelndes regionalhistorisches Lexikon gewesen.
Die Zeiten des kleinen Markus lagen mittlerweile jedoch fast so weit in der Vergangenheit wie die Tage der Bliesfelder Eigenständigkeit. Der Markus Delamotte, der die Cestonarostraße hinunterblickte, war ein junger Mann Anfang Dreißig, von mittlerer Größe und einem Körperbau, der es gerade noch erlaubte, den Betroffenen nicht direkt als dick zu bezeichnen. Sein dunkelbraunes Haar wies schon in jungen Jahren die ersten grauen Strähnen auf, und seine Augen waren von einem ziemlich ungewöhnlichen Blau, dunkel und doch zugleich etwas milchig, vergleichbar einer zu oft gewaschenen, dunkelblauen Jeans.
Delamotte griff in die linke Jackettasche und schüttelte enttäuscht den Kopf. Natürlich waren da keine Zigaretten mehr. Vor über drei Monaten hatte er, von einem Tag auf den anderen, seinen Konsum von 60 Glimmstengeln täglich auf null reduziert. Und bislang war ihm der Verzicht auch nicht all zu schwergefallen. Aber in diesem Moment hätte er gerne eine angesteckt, um die Warterei auf den Mitarbeiter der Sterckarm’schen Immobiliengesellschaft zu verkürzen. Delamotte hatte sowohl den Umzugswagen als auch seine Freunde für den kommenden Samstag bestellt, also brauchte er die Wohnungsschlüssel so rasch wie möglich.
Dabei hätte er es viel einfacher haben können. Seine Eltern hatten ihm wiederholt angeboten, die Wohnung seiner vor gut zwei Jahren verstorbenen Großmutter im elterlichen Haus zu übernehmen. Aber das hatte Delamotte abgelehnt; ein junger Mann lebte nicht jahrelang mit seiner Partnerin im pulsierenden Zentrum von Marßen, um dann, kurz nach dem Ende der Beziehung, wieder bei Mama unterzukriechen. Auch wenn ein Teil von ihm das gerne getan hätte. Die Wohnung in der Cestonarostraße war ein gesunder Kompromiss. Klar, im Mühlenviertel hatte er nicht bleiben können – von der unverschämt hohen Miete mal abgesehen, erinnerte ihn dort alles an die Jahre mit Sonja. Die Rückkehr nach Bliesfeld würde ihm guttun – er kannte fast jeden Winkel des ehemaligen Residenzstädtchens, und zum Vossemer Wall würde er in Zukunft wieder zu Fuß gehen können.
Ein silbergrauer Ford Focus bog in die Cestonarostraße ein, und fuhr langsam an Delamotte vorbei, der erleichtert die Aufschrift auf der Beifahrertür las. Der Fahrer des Focus fand eine Parkbucht etwa dreißig Meter weiter. Genauer gesagt, die Fahrerin – dabei hatte Delamotte doch instinktiv einen Mann erwartet. Vorurteile, dachte er und lächelte. Die junge Frau kam, ebenfalls lächelnd und überhaupt eine sehr ansehnliche Erscheinung, auf ihn zu: „Sie sind bestimmt Herr Delamotte.“

Am Samstagabend, der Umzug war ohne allzu große Komplikationen über die Bühne gegangen, stand Markus Delamotte in seiner neuen Küche. Er schob die beiden großen, eisernen Pfannen mit den vorbereiteten Fischstücken, Meeresfrüchten, Safranreis und Gemüse in den vorgeheizten Backofen. Dann entkorkte er zwei Flaschen Tempranillo und ging ins Wohnzimmer.
Marino kam ihm entgegen, nahm ihm eine der Flaschen aus der Hand und füllte die ersten Gläser. Kommissar Claudio Marino, ebenfalls Anfang Dreißig, groß und sportlich, wenn auch mit Tendenz zum Bauchansatz, war Delamottes einziger Freund im Dezernat, was mit Sicherheit nicht nur daran lag, dass beide am gleichen Tag vor gut drei Jahren ihren Dienst dort angetreten hatten. Er reichte die Gläser weiter, zunächst natürlich, ganz italienischer Kavalier, an die anwesenden Damen, erst an Rebecca, dann an Tatjana, und schließlich an die zierliche junge Person, die er Delamotte vormittags als Lissy vorgestellt hatte und die, soweit der Gastgeber dies im Umzugsstress richtig mitbekommen hatte, bei einem Autohändler in Grafenwyk arbeitete. Delamotte blickte sich um – Mischa stand wie üblich direkt bei seiner Frau, Holger inspizierte gerade einen Umzugskarton mit Büchern. Jemand fehlte.
Er fand Ali im Arbeitszimmer, ein Poster an der Wand betrachtend. Delamotte hatte das Bild einige Jahre zuvor während seines Gaststudiums in den USA aufgenommen. Er hatte nie den Namen des kleinen Sees in Virginia erfahren, den er an jenem Nachmittag im Gegenlicht fotografiert hatte.
Ali drehte sich zu ihm um: „Eins steht fest, mein Freund. Wenn du mal keine Lust mehr auf Psychologie hast, kannst du dich immer noch als Fotograf versuchen.“
Delamotte lächelte – wenn es einer Person zu verdanken war, dass er als Kriminalpsychologe am Berliner Platz arbeitete, dann war dies Ali Maktabi.
Nach Abitur und Zivildienst hatte Delamotte sein Psychologiestudium begonnen, teils aus Neigung, teils aus Neugierde, und teils wohl auch, um sich selbst zu verstehen – besonders seine Gemütsverfassung nach dem Ende seiner ersten, kurzen aber wilden Liaison. Aber nach drei Semestern hatte er zunehmend jedes Ziel aus den Augen verloren. An etlichen Tagen hatten Alt-Marßener Caféhäuser die Seminarräume und Hörsäle der Universität ersetzt, und Markus Delamotte hatte kurz davorgestanden, sein Studium zu verbummeln.
In einer der wenigen Lehrveranstaltungen, die Delamotte mit seinem Besuch beehrt hatte, war ihm Ali über den Weg gelaufen. Anfangs war ihm der drei Jahre ältere Libanese, dem die Adlernase unter dem dunkelbraunen, welligen Haar ein beinahe aristokratisches Flair verlieh, ein wenig sonderlich vorgekommen. Andererseits hatte er die Gespräche mit Ali im Anschluss an das Seminar rasch zu schätzen gelernt. Aber erst nach einigen Wochen, bei einem gemeinsamen Abendessen, war Delamotte klargeworden, dass er dabei war, trotz bester Voraussetzungen sein Talent wegzuwerfen. Ali hatte ihm vieles erzählt – von seiner Schulzeit im Süden Beiruts, und der wachsenden Macht der Hisbollah. Von seinem Vater, einem Geschäftsmann, dem es genug erschien, wenn die Hisbollah einen großen Teil seines Gewinns als informelle Steuer abschöpfte. Und der seinen Sohn vor der Rekrutierung durch die Miliz unbedingt bewahren wollte. Von Alis Reise über Istanbul und Ostberlin nach Marßen, wo er Deutsch gelernt und das Abitur gemacht hatte. Doch kurz darauf war sein Vater gestorben, die Finanzierung des Studiums musste Ali nun selbst übernehmen. Und so hatte Ali Maktabi angefangen, tagsüber zu studieren und abends zu arbeiten – zunächst in einem Kiosk, später dann in einem italienischen Restaurant. Im Vergleich dazu war sich Delamotte wie ein verwöhntes Bürgersöhnchen vorgekommen.
Wenig später hatte Ali Delamotte auf eine Reihe von Veranstaltungen des Psychologischen Seminars mit dem Titel „Psychologie: vom Studium zum Beruf“ hingewiesen, und die beiden hatten die meisten der Vorträge besucht. Im Allgemeinen hatten sie Delamotte nicht aus seiner Lethargie gerissen, auch wenn beispielsweise ein Feld wie Arbeitspsychologie durchaus interessant zu sein schien. Aber dann, an einem warmen Frühlingsabend, hatte ein Psychologe vom BKA über seine Arbeit berichtet – und Delamotte hatte endlich ein Ziel gefunden. Noch in den Sommerferien hatte er, anstatt zu verreisen, erstmals ein Praktikum absolviert – an einem namhaften Klinikum. Weitere Praktika sollten in den nächsten Jahren folgen, auch bei der Polizei. Im folgenden Semester hatte er Kriminalistik als Nebenfach hinzugenommen, und das weitere Studium des Markus Delamotte war schnurgerade und zielgerichtet verlaufen.
„Auf jeden Fall sehr interessant.“
Alis kurze Bemerkung riss Delamotte aus seinen Erinnerungen. „Was meinst du mit sehr interessant?“, fragte er.
„Na, das Bild muss doch noch aus deiner Zeit in Amerika stammen“, erklärte Ali und wies auf die kleine Gruppe am Bildrand hin, in deren Mitte ein großgewachsener Afroamerikaner mittleren Alters stand. „Wann mag das gewesen sein“, sinnierte er, „du bist 96 rübergegangen, nicht wahr?“
Delamotte nickte: „Ja, aber das hier muss schon 97 gewesen sein – das war das Wochenende, als Ray unsere Gruppe zum Camping in die Wildnis geführt hat.“
„Du hast doch bestimmt auch neuere Fotos, die es wert sind, die Wände deines Arbeitszimmers zu zieren“, sagte Ali und zwinkerte.
Delamotte sah gequält aus – er kannte diese spielerische Art seines Freundes, das Gespräch auf unangenehme oder sogar schmerzhafte Themen zu bringen. „Du kennst den Grund, warum hier keine neueren Fotos hängen“, antwortete er. Es war der gleiche Grund, weshalb er überhaupt zurück nach Bliesfeld gezogen war.
Ali blickte ihn lange an: „Eines Tages, mein Freund – ich weiß, dass dieser Gedanke dir momentan sehr weit entfernt erscheint – aber eines Tages wirst du auf die Jahre mit Sonja als eine Zeit des Wachsens und stärker Werdens zurückblicken.“
Delamotte schüttelte skeptisch den Kopf: „Gerade jetzt fühlt es sich eher wie eine verlorene Zeit an – im günstigsten Fall, oder auch eine Zeit des Scheiterns.“
Ali widersprach sofort: „Was für ein Scheitern meinst du? In der besagten Zeit hast du deinen Abschluss gemacht, als freier Mitarbeiter am Institut und in der Klinik gearbeitet, und bist heute forensischer Psychologe bei der Kriminalpolizei. Und noch dazu ein ziemlich erfolgreicher…“
„Vielleicht ein wenig zu erfolgreich“, warf Delamotte ein.
„Spielst du jetzt wieder auf Sonjas Gerede über deine dunkle Seite an?“, wollte Ali etwas unwillig wissen. „Was versteht sie denn davon? Bei allem Verständnis für Sonja – und für deine offenbar immer noch starken Gefühle ihr gegenüber: Biologen verstehen nun mal nichts von der menschlichen Seele.“ Ali nickte Delamotte aufmunternd zu: „Markus, was du in dir hast ist alles andere als dunkel – es ist eher ein Licht, mit dem du dunkle Orte ausleuchten kannst. Und ja, es ist manchmal ein gleißendes Licht, und bisweilen mag es dich selber blenden, und du glaubst alles um dich wäre dunkel. Aber das ist es nicht.“
Delamotte dachte lange über Alis Worte nach und antwortete: „Danke, Ali – ich gebe zu, dass deine Worte sehr überzeugend sind. Auf jeden Fall helfen sie mir, denn ob das, was ich, wie du gesagt hast, in mir habe, dunkel oder hell ist - es ist auf jeden Fall manchmal eine Last, die ich mit mir trage.“
„Besondere Talente sind wahrscheinlich immer eine Belastung“, sagte Ali, „aber ich empfände es doch als furchtbare Verschwendung, wenn du dein Talent nicht genau dort zum Einsatz bringen würdest, wo das Schicksal dich hingeführt hat. Falls aber doch…“ Er suchte behutsam nach den passenden Worten: „Falls die Last aber doch zu schwer wird, hätte ich vielleicht eine Lösung. Ich werde Marßen im Herbst verlassen und eine Stelle an einer renommierten Privatklinik in der Schweiz antreten. Die hätten garantiert auch Interesse an dir.“

Später am Abend, die meisten Gäste waren schon gegangen, und Lissy lag schlummernd auf dem Sofa. Marino half Delamotte dabei, einen Teil des Geschirrs in die Spülmaschine zu packen.
„Fährst du irgendwo hin?“, wollte er wissen.
Delamotte nickte – er hatte die vorösterliche Woche frei genommen und wollte ein paar Tage in Bad Ems entspannen.
„Und was ist mit Ostermontag?“
Markus Delamotte verzog leicht das Gesicht. Peschs Geburtstag fiel in diesem Jahr auf den Ostermontag, und er hatte einige Kollegen zu sich nach Hause eingeladen - überraschenderweise auch Delamotte.
Marino grinste: „Du kannst ihn nicht leiden, ich weiß.“ Ja, Claudio Marino wusste so einiges. Auch, dass Markus Delamotte seine Anstellung bei der Kripo vor allem der Fürsprache von Hans-Jakob Pesch verdankte.
„Er ist so ein richtiger Beamtenarsch“, knurrte Delamotte – das einzige, was er zugunsten von Hans-Jakob Pesch gelten lassen konnte, war dessen offenkundiges Faible für Literatur.
Claudio Marino zuckte mit den Schultern: „Ja, er hält sehr viel von festen Regeln. Und er ist äußerst Ergebnis getrieben, und kann verdammt ungeduldig sein. Und er kann einem ziemlich fies auf die Nerven gehen.“ Er nahm das halbvolle Weinglas in die Hand: „Du dagegen folgst am liebsten deinen eigenen Regeln, deiner manchmal reichlich verblüffenden Intuition. Und bis deine Intuition dich zu einem klaren Ergebnis führt – na, das kann dauern.“
Delamotte musste ihm zustimmen – persönlich verband ihn sehr wenig mit Hauptkommissar Pesch.
Marino fuhr fort: „Und ich gebe zu, Pesch ist ein Karrierist und seine Anzüge sind furchtbar altmodisch. Aber sollte ich mal in seine Position kommen…“ Er wies auf seinen Pulli, die Jeans und die Turnschuhe: „Ich werde meinen Kleidungsstil dann wohl auch ändern müssen. Wir sind schließlich…“
Delamotte lachte und fiel in einen Standardsatz von Hans-Jakob Pesch ein: „…nicht irgendeine Polizeibehörde, sondern die Kriminalpolizei der Landeshauptstadt.“
Marino füllte die Weingläser: „Zum Wohl!“
Delamotte erhob sein Glas: „Auf die Kriminalpolizei der Landeshauptstadt!“
Die beiden mussten nochmal lachen, bevor Marino wieder ernst wurde: „Privat ist Pesch anders – ich kenne ihn besser als du, er war ja anfangs so was wie mein Ausbilder. Er hat ne coole Plattensammlung, fährt Motorrad und fliegt, wann immer er die Zeit dafür hat.“
Delamotte war verblüfft: „Fliegt?“
Marino nickte bekräftigend: „Er hat einen Flieger in Vossem, so ein kleines Ding, Ultraleicht oder wie die heißen.“
Markus Delamotte blickte seinen Kumpel ungläubig an – als Biker und Piloten konnte er sich Hans-Jakob Pesch wirklich nicht vorstellen.

Es war still – sehr still, nachdem er das Fenster geschlossen hatte. In jungen Jahren hatte er die Stille gemocht. Dann hatte er Malin kennengelernt, und die Stille war verschwunden. Und das hatte er nicht als Verlust, sondern als Bereicherung empfunden. Und als dann kurz nacheinander die beiden Jungs dazu gekommen waren – er hatte die Stille nie vermisst. Doch Malin und die Jungs waren schon vor langer Zeit gegangen, es hatte ihm die Lebensfreude genommen, manchmal dachte er sogar das Leben selbst und fühlte sich als sei er selbst tot und begraben.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch. Ihm war kaum ein Sinn geblieben, außer der einen Aufgabe, die er sich selber gestellt hatte und von der niemand außer ihm wusste. Er hatte diese Aufgabe angenommen und er musste sie erledigen, musste sie besser erledigen als frühere Aufgaben in seinem Leben. Es war wieder an der Zeit – er öffnete den altmodischen Karteikasten, den er schon vor langer Zeit auf einem Trödelmarkt erstanden hatte. Passende Karten hatte er bei einem Schreibwarenhändler in der Altstadt entdeckt. Und im Laufe der folgenden Jahre waren mehr und mehr Karten beschriftet worden – Namen, Adressen, Beschreibungen, alle benötigten Informationen. Säuberlich sortiert warteten sie im Kasten auf ihren Einsatz. Er blätterte die Karteikarten durch, fand nach einiger Zeit eine Karte, die vielversprechend aussah. Er nahm sie aus dem Kasten.


Delamotte setzte den Blinker und bog ab. Die zumeist grauen Häuser der Baassemer Straße zogen vorbei. Auf dem Rücksitz lag seine Reisetasche – die Aussicht auf ein paar Tage Spaziergänge an der frischen Luft, Thermalbäder und Massagen ließ Delamotte in Vorfreude lächeln. Auch wenn er den Gedanken nicht verdrängen konnte, dass er mit zunehmendem Erwachsenwerden seinen Eltern immer ähnlicher wurde. Sonja hatte ihn öfters damit aufgezogen.
Seine Eltern hatte Delamotte am Vorabend im serbischen Restaurant Šumadija getroffen, das in einer kleinen Gasse unweit des Marktplatzes lag. Wie erwartet konnte seine Mutter nicht verstehen, warum er sein hartverdientes Geld für eine Mietwohnung ausgab, statt die frisch renovierten 75 Quadratmeter in der Wiesenau zu beziehen. Aber ob hartverdient oder nicht, es war eben sein Geld – und es war sein Leben, und das musste er leben, niemand sonst. Seine Eltern gehörten natürlich dazu, aber auch die Unterschiede zwischen ihnen, und das mussten beide Seiten noch lernen, auch wenn das ein schwieriger Prozess zu sein schien.
Auf dem Weg ins Zentrum war Delamotte aufgefallen, wie sehr sich Bliesfeld in den letzten Jahren verändert hatte. In der Zeit mit Sonja hatte er außer dem Haus seiner Eltern, dem seines Großvaters, dem Šumadija und der Eishalle am Vossemer Wall nicht wirklich viel von seinem Geburtsort gesehen. Viele der alten Geschäfte bestanden nicht mehr, waren ersetzt worden durch Filialen landesweiter Ketten – Drogerien, Schmuckartikelläden, sogar Bäckereien trugen ja jetzt fast überall die gleichen Namen. Diese Entwicklung war ihm schon im Mühlenviertel aufgefallen, aber seinen Geburtsort hatte Delamotte immer als ein Stück heile Welt gesehen. Warum eigentlich? Warum sollten die Zeitläufe vor der Peripherie der Großstadt Halt machen? Sein Onkel Philipp, der eigentlich gar kein Onkel war, nur ein weiterer Verwandter aus dem weitverzweigten Clan der Morenhovens – jener Philipp Winterscheid betrieb immer noch seinen kleinen Tabakladen in der Kirchgasse, und auch die Vandenborres hatten noch ihr Herrenmodengeschäft. Bei nächster Gelegenheit, nahm Delamotte sich vor, musste er seine Eltern mal fragen, ob Mutters Cousins Franz-Josef und Maximilian die „Herzogliche Hofbrauerei Reinertz & Cie.“ immer noch gegen die Übernahmegelüste der Großbetriebe verteidigten.
Fast hätte Delamotte in Gedanken die Auffahrt zur Autobahn verpasst. Er fädelte in die Abbiegerspur ein – jetzt ein paar Kilometer auf dem Marßener Ring, und dann gut achtzig Kilometer südwärts bis Kreuz Koblenz. Auf dem Stück seines Weges würde er seine Gedanken besser schweifen lassen können.

Hans-Jakob Pesch ahnte bereits Unheil, als er am Morgen des Gründonnerstags vom Brummen seines Mobiltelefons geweckt wurde. Ein Anruf um diese Zeit konnte erstens nur dienstlich und zweitens nur dringlich sein. Ein Blick auf das Display des Geräts verstärkte sein Unbehagen. Er spürte immer Unbehagen, wenn er mit Neumann zu tun hatte. Das konnte an Neumanns Art liegen: seinem unbestreitbaren Intellekt, seinem rhetorischen Geschick, seiner manchmal recht scharfen Ironie. Vor allem aber lag es an der Geschichte, Deutschlands Geschichte und Neumanns Geschichte, oder vielmehr Neumanns Herkunft. Religion, sprach die Stimme in Peschs Kopf, es ist eine Religion, verdammt noch mal… Er nahm das Gespräch an.
Eine knappe Stunde später lenkte Pesch seinen Dienstwagen auf den Parkplatz des Zievelsburger Malteser-Krankenhauses. Es fiel ihm leicht, sich zu orientieren – ein Teil des Parkplatzes war mit rotweißem Band abgesperrt, einige Kollegen in Uniform hielten die bereits zahlreich vertretenen Journalisten auf Abstand. Er erkannte einige der Kriminaltechniker, die die Umgebung nach verwertbaren Spuren absuchten. Es war die Pesch nur allzu vertraute Geschäftigkeit an einem frischen Tatort.
Hauptkommissar Michael Neumann kam auf ihn zu, nur wenig jünger als Pesch selbst, mittelgroß und drahtig, die schwarzen Locken großenteils unter einer karierten Mütze verborgen, die farblich gut zu seinem Sakko passte. Pesch musste ein Schmunzeln unterdrücken – man hätte Neumann auch für einen englischen Landadligen auf dem Weg zur Jagd halten können.
„Zum Glück war es die ganze Nacht trocken, das könnte den Kollegen helfen“, sagte Neumann und wies mit dem Kinn auf das geschäftige Treiben der Spurensicherung hin.
„Was wissen wir bis jetzt?“, fragte Pesch.
Neumann zählte auf, für jeden Punkt stand ein Finger seiner rechten Hand: „Das Opfer: Dr. Richard Ernsting, 39, Unfallchirurg. Gegen Viertel nach Drei wurde er zuhause angerufen, ein Notfall. Er wohnt mit seiner Familie in Riedenkirchen – über die Autobahn brauchte er wohl etwa zwanzig Minuten. Um Viertel vor Vier machte ein Krankenpfleger seine Zigarettenpause hier draußen – er sah die brennenden Scheinwerfer, ging nachschauen und fand Dr. Ernsting vor der offenen Fahrertür liegen.“ Er blickte Pesch an: „Wir könnten also den Zeitpunkt der Tat auch ohne gerichtsmedizinische Untersuchung sehr genau bestimmen.“
„Die Todesursache?“ Pesch war nicht wirklich wild darauf, sie zu erfahren, denn er ahnte sie schon und das bedeutete nichts Gutes.
„Gustavsson ist noch bei der Leiche“, erklärte Neumann, „aber ich habe sie gesehen und wenn du mich fragst…“
„Kopfschuss“, unterbrach Pesch.
Neumann nickte.
„Irgendwelche Zeugen?“, fragte Pesch.
Neumann schüttelte den Kopf: „Keine, was mich ein wenig wundert bei so einem großen Krankenhaus-Parkplatz. Andererseits, nachts gegen halb Vier…“ Sein Blick schweifte in eine unbestimmte Ferne. „Und bevor du fragst: die Schrankenanlage am Eingang ist defekt, die Schranke steht schon seit vorgestern oben. Und eine Überwachungskamera gibt es nicht.“
Neumann drückte Peschs Arm – eine Geste, die Vertrautheit ebenso ausdrücken konnte wie Mitgefühl. „Du weißt, warum ich dich hergerufen habe, nicht wahr?“
Pesch verzog säuerlich das Gesicht. Natürlich wusste er das – geahnt hatte er es schon auf dem Weg nach Zievelsburg, und befürchtet hatte er einen Moment wie diesen bereits seit Monaten. Dunkelheit. Kopfschuss. Keine Zeugen.
Er nickte: „Ja, und ob ich das weiß. Und ich habe ein verdammt mieses Gefühl im Bauch.“ Er griff in die rechte Tasche seines Jacketts, während die große, immer etwas gebeugte Gestalt Professor Emil Gustavssons vom gerichtsmedizinischen Institut auf die beiden Hauptkommissare zukam. Mist. Pesch hatte seine Magentabletten zuhause vergessen.