Diesen Artikel veröffentlichte ich bei Ipernity am 28. 09.2012


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Alles hat zwei Seiten

Ein schöner Morgen
- ein klarer blauer Himmel -
- fast windstill -


Dieser schöne Morgen lädt ein
zu einem Spaziergang
in den nahegelegenen Rosengarten.

1

Noch blühen die Rosen nicht.
Aber dafür begrüßt mich
ein Kirschbaum mit seiner roten Blütenpracht.

Ich gehe langsam weiter.
Ich weiß - hier hat ein Künstler
eine schöne Frau in Bronze dargestellt.

2


Die Arme geöffnet
mit geschlossenen Augen
blickt sie nach oben,
- in ihre Innenwelt -
- vielleicht -
- auf eine Vision wartend -
Jedenfalls sieht es so aus.

Ich setze mich auf eine Bank
und sanft kommt mir eine Erkenntnis:

Alles - was wir sehen - sehen wir
immer nur von einer Seite
.
Seltsam - noch nie war es mir aufgefallen.
Alles - wirklich alles -
- sehen wir nur von einer Seite -

Also - wenn ich die junge Frau
von der anderen Seite sehen will
muß ich schon aufstehen.
Ich stehe auf und gehe
auf die andere Seite

3



Schön sieht sie aus - die junge Frau.
Ihre Schönheit erfreut mich.
Aber nicht nur mich.
Auch andere Spaziergäger
bleiben einen kleinen Moment stehen.
" Immer wieder schön anzusehen, "
sagt ein junger Mann neben mir.
" Mir gefällt sie auch, "
meint lächelnd seine Begleiterin.

Komisch - da fällt mir ein Spruch ein -
oft gehört :

" Alles hat zwei Seiten "

Und ich ertappe mich dabei,
dass meine Gedanken und Gefühle
in mir spazierengehen.
Mal sehen wohin sie mich führen.

In mir höre ich eine feine Stimme:
" Wenn du etwas von allen Seiten betrachten willst,
mußt du dich schon bewegen.
Entweder mit deinem Körper
- wie du es gerade getan hast
- oder - "
sie macht eine kleine Pause -
oh - jetzt bin ich aber gespannt
" oder " so fährt sie fort,
" diese junge Frau wäre lebendig -
sie würde sich drehen
und von deinem Platz aus könntest du
auch ihre andere Seite sehen."

" Die Sache hat immer noch einen Nachteil "
erwidere ich:
" ich sehe trotzdem immer nur eine Hälfte."

" Das läßt sich leider nicht ändern.
Aber immerhin - du kennst dann beide Seiten.
Das ist doch auch gut. "

Und nach einer kleinen Pause:
" So ist nun mal euer Leben."

" Eigentlich schade " erwidere ich.
" Aber besser - als gar nichts sehen. "
antwortet sie lächelnd.

Ich werde nachdenklich:
Wie oft im Leben sehen wir
einen Menschen - eine Sache - eine Situation
nur von unserer Seite
von unserem Blickwinkel aus.
- Bringt es mir einen Vorteil -
- wieviel läßt sich daran verdienen -
anstatt es auch mal mit den Augen
des anderen zu sehen.

Ich seufze :
- Wenn das Leben doch etwas einfacher wäre -

4


Ich schaue nach oben:
Der Himmel ist immer noch blau -
- die Bäume blühen -
Die Natur schmückt sich von allen Seiten,
- egal - ob ich es sehe oder nicht -
Mir scheint - sie lächelt mir verstehend zu.
- Nachdenklich -
- ein wenig fröhlich gestimmt -
- und um eine Erkenntnis reicher -
gehe ich nach Hause.

:-)


Text und Fotos von Albert Jäger
die Skulptur steht
im Dresdener Rosengarten