Wenn ich fotografisch eine Stadt erkunde, dann sammeln sich zwangsläufig eine Menge Bilder an. Es ist nicht so, dass ich eine Art fotografische „Schleppnetzfischerei“ betreibe, aber - je nach Stadt - „erschlagen“ mich manchmal die Motive. Dann ist das Gebot der Stunde „Runterkommen!“ New York City oder speziell Manhattan machen die Sache nicht einfach. Nachdem ich also meinen ersten Tag in überwiegend Midtown verbracht hatte und dabei neugierig erstmal die Sachen angelaufen bin, „die man kennt“, ließ ich die Sache erstmal auf sich beruhen. Ich schaute mir am Abend des ersten Tages meinen „Fang“ an, am nächsten Tag traf ich die erste Auswahl. Und ich stellte fest: „Nee, das ist es noch nicht, da musst du nochmal ran!“

Fast eine Woche nach meinem „ersten Mal“, betrat ich wieder New Yorker Terrain. Diesmal mit einer Strategie - einfach aber effektiv. Ich löste mich von allen Highlights, packte meinen Stadtplan ein und nutze ihn nur noch, um ab und zu festzustellen, wo ich gerade bin. Ganz nebenbei bemerkt braucht man für Manhattan nur als Neuling einen Stadtplan. Das System der Straßen ist so simple aufgebaut, dass man sich kaum verlaufen kann [2]. Von links nach rechts (oder umgekehrt) verlaufen die Streets, von oben nach unten (oder umgekehrt) verlaufen die Avenues. Und Streets und Avenues werden praktischerweise einfach durchnummeriert. Die 5th Avenue bildet dabei eine Achse. Links davon - von Süden aus betrachtet - bekommen die Streets ein W oder West voran gestellt, rechts davon dann eben ein E oder East. Fertig ist das Straßenraster Manhattans. Nur eine Straße fällt dabei komplett aus dem System: Der Broadway. Dieser folgt einen alten Indianertrail und fügt sich in seinem mehr als 25 km langen Verlauf kaum in das Schachbrettmuster der Avenues und Streets ein. Wann immer er eine Avenue „überquert“, also kreuzt bilden sich „Dreiecke“, die sogenannten Squares und davon gibt es einige: Verdi Square, Sherman Square, Lincoln Square, Duffy Square, Herald Square, Madison Square, Union Square etc. ... Und selbstverständlich der Time Square, den wohl jeder Tourist anlaufen wird und der den Broadway rund um ihn herum mit dem Theater District international bekannt macht.

Meine Tochter - ich begleitete sie wieder auf dem Weg zur Arbeit - und ich trennten uns in Newark, wo sie mit NJ Transit wieder zur Penn Station fuhr und ich die PATH [3] nahm um den World Trade Center Transportation Hub [4] im Süden Manhattans (Lower Manhattan, Financial District) zu erreichen. Von hier aus schlug ich den Weg nicht gradlinig über Chinatown, East Village, an der UNO, Flatironbuilding und Empire State Building vorbei bis zum Central Park ein und legte so, über den Tag verteilt ca. 8 bis 10 km (5 miles) zurück. Natürlich - darum war ich da - machte ich Bilder aber ich hatte mir bewusst keine fotografischen Ziele gesetzt. Alles was ich fotografisch betrachtete, lief mir entweder über den Weg oder „stand da so rum“.

Es gibt - theoretisch ausgedrückt - zwei Pole in der Streetphotography: Entweder man bewegt sich oder man bewegt sich nicht. D.h. ich laufe eine Strecke und entdecke dabei interessante Dinge oder ich platziere mich irgendwo hin und hoffe dass die interessanten Dinge dort passieren. Beides hat den Nachteil, dass man immer etwas verpasst - damit muss man leben. I.d.R. befinde ich mich irgendwo zwischen den Polen. Ich sitze also nie sehr lange irgendwo wie ein Jäger auf dem Hochsitz, noch pirsche ich ständig durch das Unterholz. Manchmal überwiegt das eine, mal das andere, das liegt daran, wo ich mich gerade befinde. Was selten passiert ist, dass ich bestimmte Ziele einfach ansteuere. Das setzt mich unter Druck und ich arbeite eine Checkliste ab. Das kommt nur in Frage, wenn ich ganz bestimmte Dinge vor die Kamera haben möchte / muss, entweder weil es mir persönlich noch fehlt oder weil es Auftrag ist. Der heutige Tag war also geprägt vom klassischen Mix. Ich ließ mich treiben und hatte Zeit bis zum Treffen mit meiner Tochter in Midtown um 17 Uhr.

Ich verließ den Transportation Hub, ließ Ground Zero für heute links liegen und schlug den Weg Richtung Brooklyn Bridge ein, vorbei an der New York City Hall, dem Amtssitz des Bürgermeisters von NYC und weiter vorbei am David N. Dinkins Municipal Building, in dem sich große Teile der Stadtverwaltung von NYC (dahinter zwischen Park Row und East River gleich das NYPD [5]) befinden. Ein Blick auf die Rampe der Brooklyn Bridge bestätigte schon mal mein Vorhaben, diese Brücke an diesem Tag nicht zu betreten. Es war zwar November, ab und zu gab es Regen, aber in diesem Jahr war es auch so warm, dass ich bald unter meiner „Übergangsjacke“ zu schwitzen begann. Im Übrigen trat dieses Phänomen in dem Jahr auch in Europa auf. Noch eine Woche vor meinem Abflug nach NYC, liefen noch in den Abendstunden im T-shirt bekleidete Menschen in der Fußgängerzone von Luxemburg.

Durch den Two Bridges Historic District, dem Viertel von Manhattan, das zwischen der Brooklyn Bridge und der Manhattan Bridge liegt [6] , ging es weiter nach China Town. Und China Town verführte mich dazu in den Modus „ich-bewege-mich-nicht“ zu wechseln. Hier beginnt eine völlig neue Welt. Dabei verändern sich die Gebäude im Gegensatz zum Rest von Manhattan wenig. Sie tragen nur „andere Kleider“ - eben chinesische. In den großen Lichtreklamen dominieren chinesische Schriftzeichen, afro-amerikanische oder europäisch wirkende Menschen sieht man hier weniger, das Straßenbild ist geprägt von Menschen ostasiatischer Herkunft. So muss es in Shanghai aussehen, dachte ich mir, aber da war ich auch noch nie. Ich ließ mich an einer Kreuzung einfach nieder und begann meinen Bilder von dieser so fremd wirkenden Welt zu schießen. Und dann war plötzlich Mittag, wie mir mein Magen signalisierte.

Doch bevor ich mich wieder dem Time Square zuwandte und damit auf die Westseite Manhattans wechselte, verlief mein Weg weiter am East River entlang, bis ich die Headquarters of the United Nations erreichte. Obwohl NYC keine Hauptstadt wie z.B. Washington ist, sieht man hier Botschaften der unterschiedlichsten Staaten - und auch deutlich, wie unterschiedlich diese Welt verteilt und gewichtet ist. Kaum hat man die Deutsche Botschaft bei den UN [7] passiert - ein nicht ganz kleines und praktisch-repräsentatives Gebäude - trifft man um die Ecke ein paar Straßen weiter auf eine Tür im Souterrain, kaum zu entdecken, wenn man eilig seines Weges geht. Und dort steht auf einer etwas heruntergekommenen Tür: Permanent Mission of The Republic of Yemen to the United Nations. Es geht jetzt nicht um den Yemen, aber der Kontrast stimmt schon etwas nachdenklich.

Noch einmal kurz an den East River heran tretend, um eine kleine Pause einzulegen, trällert mir plötzlich innerlich eine Musik im Ohr:

„Spring was never waiting for us, dear
It ran one step ahead
As we followed in the dance“


Wer jetzt die Stimme von Donna Summer aus besten Discozeiten noch ins Ohr bekommt, swingt vielleicht ein wenig mit und bekommt hoffentlich keinen Ohrwurm. Ich stand vor einem kleinen Schild mit der Aufschrift MacArthur Park... Nein, Donna Summer [8] besang in ihrem Release aus dem Jahre 1978 - das Original stammt aus dem Jahre 1968 und wurde von Richard Harris gesungen - nicht diesen MacArtur Park in NYC, sondern den ca. 4000 km weit entfernten berühmten Park in Los Angeles. Und ich stand nun hier in Manhattan - Turtle Bay vor dem kleinen Schild und gemeint war damit der MacArthur Playground, offiziell tatsächlich General Douglas MacArthur Memorial Park genannt. Ich war noch nie auf einem Spielplatz mit so imposanten Namen. Egal - Pause, Parkbank und den Song innerlich bis zum Ende abspielen. Das soll angeblich gegen Ohrwürmern helfen. Da ich ja eine Pause machen wollt, startete ich gleich die Extended Version. Immerhin war Midtown Manhattan Ende der 1970er Jahre Heimat des bekanntesten Nachtclub der Welt, dem Studio 54 [9]. Dieser hatte seinen Namen von der Straße an der er lag, der West 54th Street. Ich hatte das Studio 54 - heute ein Musical-Theater - auch gar nicht auf dem Plan, vielleicht weil ich mir die Illusion nicht rauben wollte, dass ich mich als Teenager durch den regelmäßigen Besuch unserer Dorfdisco selbst der Generation Studio 54 zugehörig fühlte.

Obwohl ich es durchaus hätte machen können, folgte ich somit nicht der 54th Straße, sondern verlegte meinen Weg nach Westen, quer durch Midtown über die East 42nd, wechselte dann kurz vor der 5th Ave. auf die E 43rd St. um in der W 43rd St. meinen zukünftigen Lieblingscoffeeshop zu entdecken. Ich sollte vorausschicken, dass ich morgens erstmal einen Becher Kaffee brauche um meine Betriebstemperatur zu erreichen, ich funktioniere quasi wie ein altes Röhrengerät. Da meine Tochter keinen Kaffee konsumiert, holt sich jedesmal für mich die Kaffeemaschine aus dem Keller und entstaubt sie. Meistens lohnt es sich kaum für mich, sie überhaupt anzustellen und so führt der erste Weg, nachdem wir das Haus verlassen haben zu einem Coffeeshop in der Nähe, so einen mit Donut im Namen - wirklich kein Highlight. In Manhattan gab es dann schon mal einen mit Star und einer Sirene im Logo , der es zumindest schaffte den ersten Kaffee des Morgens wieder zu vergessen. Jetzt am frühen Nachmittag brachte mich ein blaues Label dazu, links von der W 43rd St. auf den Grace Plaza einzuschwenken und einen Coffeeshop zu betreten, den ich bisher noch nicht kannte: Bluestone Lane - an Australian-inspired coffee shop. Und ab da, wann immer ich nach Manhattan kam und komme, dieser Coffeeshop steht ganz oben auf meiner Liste und gehört zu den ersten Zielen die ich anlaufe.

Der Rest des Tages ist schnell erzählt: Über die 7th Ave hoch zum Central Park (dem gebührt noch ein eigener Artikel) und über Columbus Circle und Broadway wieder zurück zum Büro in dem meine Tochter arbeitete. Von da an durch den Wahnsinn der Rush Our über die 7th Ave, an Macy's vorbei zur Penn Station um dann - sofern es geklappt hat - glücklich im Zug zu sitzen. Ab da kommt man runter.


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[1] "Die Kamera lässt dich vergessen, dass du da bist. Es ist nicht so, dass man sich versteckt, aber man vergisst es, weil man so viel schaut." - Zitat von Anna-Lou „Annie“ Leibovitz (* 2. Oktober 1949 in Waterbury, Connecticut) ist eine US-amerikanische Fotografin. Sie zählt zu den bekanntesten und bestbezahlten Fotografen der Welt.
[2] Das Schachbrettmuster Manhattans beruht auf den sog. Randel-Plan, einem Bebauungsplan des Geodäten John Randel jr. Dieser folgt absolut keiner Ästhetik, im Straßensystem ist alles rechtwinkelig, streng mathematisch und funktional.
[3] PATH (Port Authority Trans-Hudson) ist ein Schnellbahn-System in der Metropolregion New York. Es nutzt zwei Eisenbahntunnel unter dem Hudson River, um die Stadt Newark und die Städte Jersey City, Hoboken und Harrison im dicht besiedelten Hudson County des Bundesstaats New Jersey mit den Geschäftszentren Lower Manhattan und Midtown Manhattan zu verbinden. Die PATH ist das zweite U-Bahn-Netz in New York City und unabhängig von der New York City Subway.
[4] Der World Trade Center Transportation Hub (2016 eröffnet) ist ein Umsteigebahnhof, der ein Umsteigen von der PATH in die New York City Subway erlaubt. Vom Transportation Hub ist auch der World Trade Center Komplex (WTC 1 - 4) direkt zugänglich. Die Transit Hall „Oculus“ ist das Herzstück des neuen Umsteigebahnhofs. Sie wurde vom spanischen Architekten Santiago Calatrava gestaltetet. Falls mal jemand ein Ausblick in die Architektur des „Oculus“ haben möchte, dem kann ein Besuch des Bahnhofs Liège-Guillemins der belgischen Stadt Lüttich empfohlen werden.
[5] NYPD = New York City Police Department, eine Behörde mit rund 36.000 Beamte und 19.000 zivile Mitarbeiter, 9.624 Polizeiautos, 29 Polizeiboote, 8 Hubschrauber, 45 Pferde und 34 Hundestaffeln (Zahlen von 2018 - 2022). Allein diese Zahlen zeigen schon mal deutlich, wie groß diese Stadt ist.
[6] Der „Two Bridges Historic District“ zwischen der Brooklyn Bridge und der Manhattan Bridge in Manhattan ist im Gegensatz zu seinem Gegenüber auf der anderen Seite des East Rivers in Brooklyn (D.U.M.B.O. = Down Under the Manhattan Bridge Overpass) wesentlich größer, da die Brücken Richtung Brooklyn konisch zueinander laufen. D.h. die Entfernung zwischen den Rampen auf der Manhattan-Seite des East River liegen fast doppelt soweit auseinander, wie in Brooklyn.
[7] Amtlich „Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen“ den die eigentliche Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in den U.S.A. befindet sich natürlich in Washington. Trotzdem kann man hier konsularische Dinge erledigen, denn hier befindet sich auch das Deutsches Generalkonsulat New York dessen Amtsbezirk die Staaten New York, New Jersey und Pennsylvania umfasst.
[8] Donner Summer - Mac Arthur Park, Semtember 1978, Writer: Jimmy Webb, Producers: Giorgio Moroder, Pete Bellotte.
[9] de.wikipedia.org/wiki/Studio_54