Auf dem Gang sprach Delamotte eine ihm entgegenkommende Krankenschwester an. „Entschuldigung, ich brauche gerade mal ihre Hilfe. Ich bin von der Kripo Marßen“, erklärte er.
Die dunkelhaarige junge Frau blickte ihn aus Augen an, die fast so intensiv blau waren wie die von Kommissar Brocker. „Sie sind sicher wegen Herrn Franzen hier“, sagte sie, „was kann ich denn für Sie tun?“
„Haben Sie hier irgendwo einen Computer mit Internetzugang?“, fragte Delamotte.
Sie nickte: „Ja, sowas haben wir. Kommen Sie mal mit.“ Während er ihr den Gang entlang folgte, erklärte die Krankenschwester: „Der Computer ist zwar eigentlich nur für unsere Ärzte, aber ich denke für die Polizei kann man da eine Ausnahme machen.“
Delamotte bedankte sich herzlich.
Der Computer befand sich in einem winzig kleinen Zimmerchen, das gerade mal genug Platz für einen Tisch und einen Stuhl bot. „Na also, der ist sogar schon eingeschaltet“, sagte die junge Frau. „Ich lasse Sie dann mal alleine – falls Sie was brauchen, ich bin schräg gegenüber im Schwesternzimmer“, fuhr sie fort.
An der Tür drehte sie sich nochmal um und ermahnte ihn mit einem Zwinkern: „Aber keine Pornos gucken, klar?“
Der Psychologe lachte: „Warum nicht, wenn es der Aufklärung eines Verbrechens dient?“
Die Krankenschwester legte den Kopf schräg: „Na, Sie wirken aber nicht wirklich wie einer, der noch aufgeklärt werden muss.“ Sie verließ den Raum, und Delamotte hatte zum wiederholten Mal in jüngster Zeit das Gefühl, sein Selbstwertgefühl werde wieder stärker.
Er rief eine Suchmaschine auf und gab den Namen Malin Gjelland ein. Sehr schnell wurde er fündig. Wenn noch aktuell war, was er dort las, dann arbeitete Osterfelds Ex als mehrsprachige Fremdenführerin in der Altstadt von Bergen. Von der Stadt hatte er schon öfters gehört, Kreuzfahrten nahmen dort regelmäßig ihren Ausgang.
Auf der Seite der Agentur, für die Malin Gjelland offenbar arbeitete, befand sich auch ein Foto der Frau. Und ja, er konnte verstehen, warum sich Franzen vor vielen Jahren in sie verknallt hatte. Ein wenig erinnerte ihn die Geschichte an seine Romanze mit Ellen Abramczyk, einige Jahre später. Nein, nicht nur ein wenig, korrigierte er sich. Und ob es wirklich eine Romanze gewesen war oder vielleicht doch nur eine Affäre? Er sah in Henri Franzen auf jeden Fall einen Seelenverwandten.
Delamotte ging hinüber in das Schwesternzimmer, wo sich die dunkelhaarige Krankenschwester im Gespräch mit drei Kolleginnen befand. „Ja, kann ich noch was für Sie tun?“, fragte sie.
Er nickte: „Ich hoffe schon. Gibt es hier auch einen Drucker?“
Sie stand auf und kam auf ihn zu. „Ja, der ist am Ende des Ganges, und wahrscheinlich müssen wir ihn erst mal einschalten.“ Abermals dackelte er hinter der, wie er feststellte, entzückend hübschen jungen Frau her. In der Tat musste sie den wuchtigen alten Drucker einschalten.
Dann gingen die beiden in das kleine Zimmerchen zurück. Sie beugte sich über den Rechner. „Reicht es in schwarz-weiß, oder brauchen Sie diese Dame in Farbe?“, wollte sie wissen.
„Also, farbig wäre schon klasse, falls das möglich ist“, antwortete er.
Sie lächelte: „Na, für die Polizei machen wir doch fast alles möglich.“ Er bedankte sich, zögerte kurz bevor er sagte: „Wenn Sie mal nach Marßen kommen – ich schulde Ihnen ein Abendessen.“
Die Krankenschwester zog ein Blatt Papier aus einer der Schubladen des Tisches und reichte ihm einen Kugelschreiber: „Na, dann schreiben Sie mir mal Ihre Emailadresse auf. Sonst kann ich die Schulden ja nie eintreiben.“
Delamotte bemühte sich, möglichst klar und leserlich zu schreiben. Sie blickte auf den Zettel und nickte: „Markus Delamotte. Schöner Name. Klingt französisch.“ Ihn überkam das Gefühl eines Déjà-vu.
Am Drucker blickte sie ihn noch mal aus ihren blauen Augen an. „Wenn ich so fragen darf“, begann sie, „wer ist denn eigentlich diese blonde Dame?“
Delamotte gab ihr bereitwillig Antwort: „Eine Fremdenführerin aus Norwegen. Und ich hoffe, wir schaffen es noch, ihr Leben zu retten.“
Die junge Frau erkannte sofort, dass es ihm ernst war. Sie drückte seinen Arm und sagte: „Viel Glück dabei.“
Zurück im Krankenzimmer, gab Delamotte den Ausdruck an Franzen. Er musste ihm keine Frage stellen. „Ja, das ist sie. Ganz eindeutig“, sagte der Künstler, „das ist Malin, gar kein Zweifel.“
Pesch und Brocker warfen ebenfalls einen Blick auf das Foto. „Sie arbeitet als Fremdenführerin in Bergen“, erklärte Delamotte. Er ergänzte: „Und das heißt, wir sollten den dortigen Kollegen dringend einen Hinweis geben. Wenn ich Malin Gjelland so schnell finden konnte – dann konnte Osterfeld das auch.“
Kraushaar und Marino kamen etwa eine halbe Stunde später wieder zurück. „Wir waren noch kurz in meiner Kanzlei, haben eine Kopie von dem Brief gemacht“, erklärte der Rechtsanwalt. „Für den Fall, dass sie den Brief mitnehmen wollen.“
Pesch wollte etwas sagen, aber Marino gab ihm rechtzeitig ein Zeichen. Delamotte nahm die Kopie entgegen und überflog das Schreiben, das mit einem klaren, schönen Schriftbild gesegnet war, wie es ein Mann niemals hinbekäme. Malin bat Franzen um Verzeihung dafür, dass sie ohne ein Wort des Abschieds verschwunden war. Sie verwies auf den Altersunterschied zwischen beiden, und deutete an, irgendwann könnte er sie deshalb verlassen. Eindringlich bat sie ihn darum, sie nicht zu suchen. Es war ein sehr weiblicher, sehr berührender Brief.
Wenig später kam Alvarez mit einem anderen Mindener Polizisten und bestätigte, was im Grunde genommen schon völlig klar war. Die Waffe, die der Täter verloren hatte, war eindeutig die Mordwaffe der Uhu-Fälle. Pesch ging kurz vor die Tür, um mit Lüttges zu telefonieren. Manni würde die Polizeibehörden in Norwegen, Schweden und Dänemark alarmieren. Niemand zweifelte an Delamottes Vermutung, Osterfeld sei auf dem Weg nach Bergen.
Es dämmerte bereits, als Brocker sie zum Auto begleitete. „Eine Frage noch, Herr Kollege“, wandte sich Pesch an den Mindener Kommissar, „ich glaube keiner von uns hat seit heute früh was gegessen. Haben Sie einen Tipp, wo wir auf dem Rückweg Rast machen könnten?“
Brocker musste nicht lange überlegen: „Knapp eine Stunde von hier liegt die Raststätte Hohe Warte. Es gibt eine Menge Leute, die extra zum Essen dort hinfahren, was bei Raststätten ja eher selten ist. Die servieren dort einen ganz vorzüglichen Pfefferpotthast.“
Brockers Tipp entpuppte sich als erstklassig, und gut gestärkt absolvierten die vier Männer den restlichen Heimweg nach Marßen. „Was ist das nur für ein Wahnsinn“, seufzte Marino, als sie schon mehr als die Hälfte des Weges absolviert hatten.
Delamotte fühlte sich angesprochen – eine endgültige Antwort hatte er auch nicht, aber zumindest konnte er versuchen, etwas Ordnung in den ganzen Fall zu bringen.
„Malin Gjelland und Leo Osterfeld sind ein Paar – nicht verheiratet, aber mit zwei Kindern. Irgendwann läuft die Beziehung nicht mehr richtig – das war wohl Mitte der 80er Jahre“, sagte er.
Marino warf ein: „Aber die beiden müssen vorher schon ziemlich unterschiedliche Charaktere gewesen sein.“
„Behauptet dieser Franzen“, brummte Pesch.
„Der beide kennt, ja“, erwiderte Delamotte, „und mit dem Malin sich auf eine Affäre einlässt. Für ihn schien es mehr als eine Affäre gewesen zu sein. Und dann, 1987, verlässt Malin mit den Kindern das Land. Oder besser: sie verlässt die Falle, in der sie steckt. Zwischen einem Partner – dem Vater ihrer Kinder – mit dem sie nicht mehr glücklich ist, und einem Liebhaber, der sie bedrängt.“ Nach einem kurzen Moment fuhr er fort: „Bis zu diesem Punkt eine Geschichte, wie sie vielleicht gar nicht so selten ist.“
„Wie reagiert nun der verlassene Leo Osterfeld auf diese Situation“, wechselte Delamotte die Perspektive. „Zunächst einmal gar nicht“, beantwortete er seine eigene Frage, „bis er dann 1990 nach Marßen umzieht. Was natürlich auch bedeutet, er musste ein Versetzungsgesuch stellen, dem musste stattgegeben werden. Das sollten wir übrigens nachprüfen, wann er beim Ministerium um Versetzung gebeten hat. Und ob er gezielt nach Marßen wollte.“
„Mit ein bisschen Glück kann sowas ziemlich schnell gehen, wenn irgendwo eine passende Stelle zu besetzen ist“, erklärte Pesch vom Fahrersitz aus. „Und dieses Gymnasium in Berschweiler war ziemlich neu, TeleCity war ein paar Jahre vorher entstanden, es gab den Bauboom in den westlichen Stadtbezirken, viele Zuzügler. Und das werden nicht alles junge Singles gewesen sein – da waren garantiert auch Familien dabei.“
„Du meinst also, das mit seiner Versetzung könnte sehr schnell geklappt haben“, sagte Marino.
Pesch nickte: „Ich werde das natürlich mal nachprüfen – aber ja, ich halte es für möglich.“
„Aber selbst wenn das etwas länger gedauert haben sollte“, erläuterte Delamotte, „stellt sich immer noch die Frage: was hat Osterfeld in den etwa drei Jahren zwischen Malins Flucht nach Norwegen und…“ – er lächelte bei dem Gedanken – „…seiner Flucht nach Marßen gemacht?“
„Irgendwie nichts, würde ich sagen“, warf Alvarez ein.
„Nicht ganz“, antwortete Delamotte, „er hat zumindest eine Idee entwickelt: die von dem tödlichen Unfall seiner Familie.“ Er atmete durch: „Und ich glaube sogar, da besteht ein Zusammenhang.“
„Das verstehe ich nicht ganz“, sagte Marino.
„Überleg dir mal folgende Situation“, erklärte der Psychologe, „jemand, der dich nicht kennt, fragt ob du Familie hast. Und du hast die folgenden zwei Antwortmöglichkeiten. Erstens: deine Partnerin ist mit den gemeinsamen Kindern abgehauen. Zweitens: deine Frau und deine Kinder wurden bei einem Autounfall getötet. Welche Variante klingt besser?“
„Ich beginne, zu verstehen“, warf Pesch ein. „Im Profil hast du erwähnt, dass der Täter ein großes Problem mit dem Thema Versagen hat. In der zweiten Variante – die Osterfeld erfunden hat – ist er eine tragische Figur. Bemitleidenswert. In der ersten, der Wahrheit entsprechenden Variante, könnte man ihn für einen Versager halten.“
„Das ist er ja auch irgendwie“, sagte Alvarez.
„Aber warum verschweigt er das Versagen nicht einfach?“, fragte Marino. „Er kommt nach Marßen, niemand kennt ihn hier, er könnte einfach erzählen, dass er mal eine Beziehung gehabt hat oder auch mehrere. Und Beziehungen gehen häufig in die Brüche, das ist nichts Ungewöhnliches. Warum macht er sich die Mühe, diese Geschichte mit dem Unfall zu erfinden?“
Delamotte verstand den Einwand seines Kumpels: „Ja, die Frage ist berechtigt. Und ich glaube, ich kann sie beantworten.“ Seine Mitfahrer hörten aufmerksam zu. „Die Idee mit dem Unfall, diese ganze Geschichte – sie war zuerst da, vor dem Umzug nach Marßen. Wahrscheinlich noch vor dem Versetzungsgesuch. So macht die Sache auch Sinn. Osterfeld entwickelt diese Geschichte mit dem Autounfall. Aber in Minden kann er niemandem damit kommen, da kennen zu viele Leute die Wahrheit. Er muss also dort weg.“
Delamotte legte eine künstlerische Pause ein, bevor er den Punkt beendete: „Und als ihn dann die erste Person in Marßen – vermutlich jemand aus dem Kollegium – fragt, ob er nie Familie hatte, da hat er die Antwort darauf schon längst parat. Die ist in seinem Kopf schon fest zementiert.“
„Scheiße, das ist echt krank“, entfuhr es Marino.
„Da hast du vollkommen recht“, erwiderte Delamotte, „Leo Osterfeld ist ein sehr kranker Mann.“
Die restliche Geschichte versuchte er zeitlich zu straffen. „Osterfeld kommt also nach Marßen, und die ersten beiden Jahre ist er unauffällig. Dann beginnt er, Daten von vermeintlichen Verkehrssündern zu sammeln. Und ungefähr zur gleichen Zeit beginnen seine cholerischen Anfälle an der Schule.“
„Diese beiden ruhigen Jahre verstehe ich nicht so richtig“, sagte Pesch.
„Ich sehe da zwei Ansätze zu einer Erklärung, vielleicht greifen beide sogar ineinander“, antwortete Delamotte. „Zwei Jahre lang reicht ihm die Kombination aus Tapetenwechsel und der neuen Geschichte vom Ende seiner Familie. Er fühlt sich nicht mehr als Versager. Oder aber: es braucht zwei Jahre, bis sein Kopf sich zumindest teilweise selber davon überzeugt, dass es den Unfall wirklich gegeben hat.“
„Du denkst an Autosuggestion?“, fragte Alvarez.
„Es wäre ein ziemlich krasser Fall“, gab Delamotte zu, „aber ja, ich halte das für möglich.“ Er erzählte die Geschichte zu Ende: „Aber diese Datensammelei und die damit verbundenen Straffantasien reichen ihm irgendwann nicht mehr. Er lernt schießen, und er sammelt die Daten möglicher Zielpersonen gezielter. Aber erst nach seiner Suspendierung wird er zum Mörder. Die Geschichte mit dem Arzt wird ihn schon angeknackst haben. Doch erst die Verwechslung der beiden Krankenschwestern lässt das ganze Lügengebäude, in dem Osterfeld die letzten Jahre verbracht hat, zusammenbrechen. Und er muss sich der Realität stellen.“
„Und in der Realität beginnt seine ganze Misere mit Malin“, erkannte Marino. Delamotte nickte. „Verdammt, ich hoffe nur, die Kollegen in Norwegen nehmen die Sache ernst“, sagte sein Kumpel.
Es war schon stockdunkel, als sie am Berliner Platz ankamen. Sie stiegen aus, die Gelenke steif von der langen Autofahrt. Pesch sagte: „Fahrt nachhause, Männer. Ich gehe nochmal kurz rein und versuche, jemanden in Norwegen zu erreichen. Ihr habt ja recht, die Sache ist verdammt ernst. Und morgen früh will ich Euch nicht vor neun Uhr im Büro sehen.“
Delamotte tauchte erst um halb zehn im dritten Stock des Polizeipräsidiums auf. Am späten Abend hatte er noch eine Email von Simon Rettich gelesen. Der Therapeut hatte ihm eine Auflistung aller Termine mit Leo Osterfeld geschickt, inklusive derer, die der Patient kurzfristig abgesagt hatte. Zwei der Absagen korrespondierten sehr stark mit den beiden Morden an van Bentum im Januar und an Oudwater im März.
Er fand die Ermittler in Manni Lüttges Büro. Der großgewachsene Kommissar berichtete gerade über ein Gespräch, dass er mit Isabel Mayerhofer geführt hatte. „Die Unterrichtsstunde, in der Osterfeld ausgeflippt ist, hatte verschiedene Formen menschlichen Zusammenlebens zum Thema. Dabei geht es wohl um Ehe, eheähnliche Gemeinschaften, aber auch Hetero- und Homosexualität und so weiter.“
Delamotte meldete sich zu Wort: „Ich habe da gerade einen Verdacht. Fragt doch den jungen Breuer mal ganz direkt, ob es bei der Auseinandersetzung mit Osterfeld in irgendeiner Form um Untreue, Fremdgehen und so was ging.“
Pesch stimmte ihm zu: „Daran habe ich gerade auch gedacht. Das würde zu Osterfelds Vorgeschichte passen.“
„Zu einer Vorgeschichte, um deren Verdrängung er sich verzweifelt bemühte“, äußerte sich Marino, „und dann kommt da dieser Bengel und reißt die alte Wunde wieder auf.“
Pesch spann den Gedanken fort: „Und diese Auseinandersetzung führt dann zu seiner Suspendierung. Und er verkriecht sich komplett in seiner Gegenrealität, und beginnt mit seinem Rachefeldzug gegen Verkehrssünder.“ Er blickte zu Delamotte: „Könnte es so gewesen sein, Markus?“
Delamotte nickte: „Absolut. Und ich stelle gerade fest, dass ihr mich hier eigentlich gar nicht braucht.“ Er grinste.
Jutta Maas sagte mit einem Zwinkern: „Markus, ohne deinen Beitrag hier kämen wir doch gar nicht auf solche Ideen.“
Der Psychologe bedankte sich und ergänzte die Diskussion um einen weiteren Aspekt: „Dieser Blickwinkel passt übrigens auch zu den früheren cholerischen Ausbrüchen Osterfelds. Fast immer in der Oberstufe. Fast immer gegen Jungs.“
„Weil sie ihn an Franzen erinnert haben“, bemerkte Marino, „weil zwischen einem Studenten von Anfang 20 und einem Oberstufenschüler von 17, 18 oder 19 Jahren kein großer Unterschied ist.“
Delamotte sah das genauso: „Zumal der fragliche Student ein ehemaliger Schüler Osterfelds war.“
Kurz berichtete er von Rettichs Email. Lüttges hatte noch eine weitere Information für ihn: „Manuela Sötenich ist sich übrigens verdammt sicher, dass Osterfeld der Mann ist, der vor Jahren ihren Gatten observiert hat. Das Foto von dem Mitgliedsausweis dieses Schützenvereins passt ja auch zeitlich ziemlich gut zu der Beobachtung, die sie damals gemacht hat.“
„Ich frage mich nur, wie viele andere Leute Osterfeld in dieser Zeit observiert hat“, sagte Henseler.
„Einige“, antwortete Delamotte. Mehr musste er auch nicht sagen.
Am frühen Nachmittag traf er Pesch noch einmal auf dem Gang. „Ich habe gerade mit dem verantwortlichen Kommissar in Bergen gesprochen. Espensen heißt er. Er glaubt, sie haben die ganze Sache gut im Griff, Malin Gjelland befindet sich bereits unter Polizeischutz.“ Er überlegte eine Weile: „Ich werde gleich versuchen, uns für morgen einen Flug nach Bergen zu organisieren.“
„Was bedeutet für uns?“, fragte Delamotte.
„Wir beide und Claudio“, antwortete Pesch, „wir sollten uns mit dieser Malin mal unterhalten – und ich glaube, unser Besuch würde dort auch noch mal unterstreichen, wie ernst die ganze Angelegenheit ist.“ Er zögerte kurz, bevor er leise weitersprach: „Das ist sie doch, oder?“
Delamotte hatte keine Zweifel: „Das ist sie absolut. Osterfeld ist jetzt auf Malin fixiert. Polizeischutz wird ihn nicht abschrecken.“
Das Handy meldete sich, als Delamotte sich gerade hinsetzen wollte. In der Tiefgarage hatte er Britta und Timmy getroffen, sie hatte ihn spontan zum Abendessen eingeladen und er hatte genauso spontan zugesagt. Es fühlte sich ein bisschen wie ein Neubeginn an, wie ein „Gehen Sie zurück auf Los“ beim Monopoly. Sie waren Nachbarn, sie mochten sich, sie kamen gut miteinander aus. Nicht mehr. Aber eben auch nicht weniger. Irgendwie gefiel Delamotte diese Wendung.
Pesch war am Apparat: „Abflug ist morgen um 11:10 Uhr, sei also bitte rechtzeitig am Flughafen. Wir bleiben auf jeden Fall eine Nacht in Norwegen.“ Delamotte bestätigte und wollte bereits auflegen, aber Pesch hatte noch weitere Themen. „Der ältere Bruder von Franzen hat sich gemeldet. Ein Mitschüler von ihm, ein gewisser Stefan Krinke, hat Osterfeld 1989 in Berlin getroffen, das muss in der Vorweihnachtszeit gewesen sein“, erzählte er.
„Also kurz nach dem Mauerfall“, überschlug Delamotte.
„Ja, stimmt, das auch“, sagte Pesch. „Interessant ist, dass Krinke von Osterfelds Trennung nichts mitbekommen hatte. Und er hat natürlich nach Frau und Kindern gefragt. Osterfeld hat ihm dann erzählt, die drei wären bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“
Der Psychologe hatte eine Idee: „Das könnte…“
„Ganz richtig“, unterbrach ihn Pesch, „das könnte die Geburtsstunde dieser Geschichte gewesen sein. Du hast gestern auf dem Hinweg was sehr kluges gesagt: Gelegenheit macht Lügner.“ Delamotte freute sich aufrichtig über das Lob. „Und richtig interessant ist in dem Zusammenhang, was mir eben eine Dame vom Kultusministerium erzählt hat“, fuhr Pesch fort. „Wenige Tage später, kurz nach Weihnachten, beantragte Osterfeld seine Versetzung. Nicht unbedingt nach Marßen, aber möglichst weit weg von Minden. Als Grund gab er eine persönliche Lebenskrise an – klingt etwas dramatisch und hat seinem Gesuch wohl auch eine gewisse Priorität gebracht. Da die damalige Schulleiterin des Albrecht-Dürer-Gymnasiums dringenden Personalbedarf angemeldet hatte, und Marßen als Landeshauptstadt und wegen der Medien ebenfalls Priorität hatte – na, du kannst es dir denken. Es ging dann jedenfalls sehr schnell mit seiner Versetzung.“
Später erst sollte Delamotte klarwerden, wie viele unglaubliche Zufälle zusammengekommen waren, um aus Leo Osterfeld den Uhu zu machen.
Rob Schenck führte gerade ein Gespräch mit Anastacia. Britta hatte Pljeskavica mit Ajvar und Djuvec-Reis zubereitet, sie hatten dazu den moldawischen Rotwein getrunken, den Delamotte von seinem letzten Besuch in Neringen mitgebracht hatte. Beim Essen und unmittelbar danach hatte beider Aufmerksamkeit vor allem Timmy gegolten, der sich sehr zu freuen schien, dass Markus mal wieder zu Besuch war. Gegen halb neun hatte Britta den Kleinen ins Bett gebracht, und die anschließende Plauderei war so unbeschwert verlaufen wie früher.
„Woran hast du gerade gedacht?“, fragte Britta. Delamotte blickte sie etwas überrascht an. „Gerade in der Werbepause“, konkretisierte sie ihre Frage, „da hast du richtig versonnen gelächelt. Woran hast du da gedacht?“
Delamotte antwortete überraschend flüssig: „Eigentlich an zwei Dinge.“ Sie beugte sich interessiert vor. „Zum einen ist es einfach schön, mal wieder mit dir zusammen Schenck zu gucken“, sagte er, „und zum anderen glaube ich, dass wir den Fall Uhu bald gelöst haben. Irgendwie bin ich also gerade sehr entspannt.“
Britta lächelte, sie nahm ihm die Erklärung ohne weiteres ab. Dabei hatte Delamotte geflunkert. Er hatte während der Werbepause an eine dunkelhaarige Krankenschwester mit blauen Augen gedacht. Und nein, auch darob schämte er sich kein bisschen.
Noch am Gate in Marßen hatten die drei sich kurz über den Trip nach Norwegen und sein Ziel unterhalten. Pesch und Marino würden das Gespräch mit Espensen führen, der am Flughafen Bergen einen Besprechungsraum organisiert hatte. Das nachmittägliche Gespräch mit Malin Gjelland wäre dann in erster Linie Delamottes Aufgabe. „Mir ist wichtig, dass den norwegischen Kollegen klar ist, mit was sie es zu tun haben“, hatte Pesch gesagt. „Und vielleicht kann uns Osterfelds Ex noch ein paar kleine Mosaiksteinchen liefern.“ Er hatte Delamotte angeblickt: „Keiner hat diesen Kerl so gut durchschaut wie du, und das schon sehr früh. Mit ein bisschen zusätzlichen Informationen kannst du vielleicht ableiten, wie der Kerl weitermachen wird.“ Delamotte hatte den gesteigerten Erwartungsdruck nicht unbedingt goutiert, aber schon erwartet.
Espensen empfing die deutschen Gäste und führte sie in einen kleinen Besprechungsraum, auf dessen Tisch Kaffee, Wasser, belegtes Knäckebrot und Süßgebäck bereitstanden. Delamotte war dies durchaus genehm, an Bord des Fliegers hatte es nichts zu essen gegeben, von überteuerten Sandwiches und Süßigkeiten abgesehen. Darauf hatte der Psychologe gerne verzichtet. Pesch stellte seine Mitarbeiter vor; Delamotte schien eine gewisse Reserviertheit im Blick des grauhaarigen Norwegers durchzuschimmern. Espensen selber wurde von einer hellblonden, vergleichsweise jungen Frau begleitet, die er den Marßenern als Kommissarin Solberg vorstellte.
„Bisher fehlt von Ihrem Verdächtigen jede Spur“, erklärte Espensen, „obwohl seit fast zwei Tagen alle Polizeikräfte zwischen Ihrer Grenze mit Dänemark und dem Westen Norwegens nach ihm Ausschau halten.“
„Das wundert mich nicht“, erwiderte Pesch, „Osterfeld ist alles andere als ein Dummkopf. Er wird hier nicht so einfach mit dem Auto vorfahren und eine Pistole zücken.“
„Wie sicher sind Sie sich denn überhaupt, dass er hierher kommen will?“, fragte Espensen.
Pesch war etwas überrascht; er wusste, dass Lüttges eine umfassende Zusammenfassung von Osterfelds Werdegang an die Kollegen in den skandinavischen Ländern geschickt hatte. „Wie der Kollege Manfred Lüttges Ihnen in seinem Dossier bereits mitgeteilt hat, ergibt sich diese Wendung aufgrund der ganzen Geschichte Leo Osterfelds fast zwangsläufig“, erklärte er. Die Skepsis wich nicht aus Espensens Gesicht; Pesch wandte sich Hilfe suchend an Delamotte: „Markus, du kannst das sicher noch fundierter erklären.“
„Leo Osterfeld hat lange gebraucht – sehr lange sogar – um sich letztlich zum Serienmörder herauszubilden“, führte Delamotte aus, „aber der Ausgangspunkt all dessen war das Scheitern seiner Beziehung mit Malin Gjelland. Das Scheitern als Partner und Vater der beiden gemeinsamen Kinder konnte Osterfeld nicht akzeptieren – und er erfand eine Gegenrealität, in der Malin ihn nicht verlassen, sondern gemeinsam mit den Kindern einem Autounfall zum Opfer gefallen war. Diese Gegenrealität übernahm allmählich die Kontrolle – aber nach außen hin blieb Osterfeld viele Jahre ein allenfalls etwas sonderlicher Zeitgenosse. Bis es dann, aufgrund einer physischen Auseinandersetzung mit einem Schüler, zu seiner Suspendierung kam. Und der Täter flüchtete sich komplett in seine Gegenrealität. Die ersten neun Opfer Osterfelds waren dementsprechend Männer und Frauen, die ihm in den Jahren zuvor als vermeintliche Raser, oder sonst wie rücksichtslose Fahrer aufgefallen waren. Dabei unterliefen ihm aber Fehler. Der letzte, und für ihn gravierendste, war die Verwechslung einer Krankenschwester mit ihrer Kollegin. Er tötete – aus seiner Sicht – die falsche Frau. Damit brach das ganze Lügengebäude seiner Gegenrealität zusammen. Das ist erst knapp einen Monat her.“
Er betonte besonders den Rest der Geschichte: „Die nächsten beiden Opfer waren der Anwalt, der im Namen des von Osterfeld angegriffenen Schülers tätig geworden war, und der Leiter der Schule, an der unser Täter beschäftigt war. Sie sehen, er fand den Weg zurück in die Realität – tötete aber weiter. Am Sonntagmittag versuchte er dann, einen Mann zu ermorden, mit dem Malin Gjelland eine Affäre gehabt hatte, bevor sie nach Norwegen zurückkehrte, und dabei die gemeinsamen Kinder mitnahm.“ Er blickte von Espensen zu Solberg und wieder zurück: „Den Rest können Sie sich selber einfach ausrechnen. Am Ausgangspunkt seiner Misere liegt in Osterfelds Sicht der Dinge Malin Gjelland. Es liegt auf der Hand, dass er an diesen Ausgangspunkt will.“
„Warum hat der Mann sich nicht einfach selber getötet, als ihm klar wurde, dass er die ganze Zeit in einer Lüge gelebt hatte?“, fragte die junge Kommissarin.
„Er hatte noch zu tun“, erklärte Delamotte, „denn auch in der realen Welt gab es Menschen, gegen die er Groll hegte. Viel mehr Groll als gegen all die Ersatzopfer, die er im Laufe der vorherigen zwölf Monate ermordet hatte.“
„All diese Opfer in nur zwölf Monaten“, entfuhr es Espensen.
„Exakt zwölf Monate“, bestätigte der Psychologe, „28. Juli 2003: Karlheinz Sötenich, ein lebensfroher Malermeister Anfang Fünfzig. 28. Juli 2004: Monika Zerres, eine frisch verliebte 24jährige Krankenschwester.“ Solberg schien fast zusammenzuzucken. „Die anderen Namen stehen bestimmt in dem Dossier des Kollegen Lüttges. Und ja, es ist denkbar, dass Leo Osterfeld auch selber mit dem Leben abgeschlossen hat. Aber er wird auf keinen Fall sein Leben beenden wollen, solange er nicht Malins beendet hat.“
Pesch übernahm das Gespräch wieder, sichtlich erleichtert über den Eindruck, den Delamottes Worte bei Espensen und Solberg hinterlassen hatten. „Leider haben wir von dem Mordversuch in Minden erst knapp einen Tag später erfahren“, führte er aus, „und bis uns alle Zusammenhänge klar waren, vergingen auch noch ein paar Stunden. Osterfeld hat also fast anderthalb Tage Vorsprung.“
Er verdeutlichte das Dilemma anhand des zeitlichen Ablaufs: „Am Sonntagmittag versucht er, Henri Franzen zu ermorden. Zum Glück konnten wir Medienberichte darüber bislang zurückhalten – Osterfeld weiß also nicht, dass Franzen noch lebt.“
„Aber er wird es in Erwägung ziehen“, warf Marino ein.
„Ganz richtig“, bestätigte Pesch, „und nun kommt der springende Punkt: erst am frühen Montagabend hatten wir alle Punkte beisammen, um die Kollegen in Skandinavien alarmieren zu können.“ Er blickte Espensen an: „Und wann wurde dieser Alarm dann hier umgesetzt?“
Der Norweger blickte etwas säuerlich: „Gestern früh.“ Delamotte gefiel es nicht, dass Pesch Espensen ohne Not bloßgestellt hatte.
„Um es zusammenzufassen“, sagte Pesch, „die deutsch-dänische Grenze wird er schon lange vorher passiert haben.“
Marino fuhr den Gedanken fort: „Und von dieser Grenze bis zur Öresundbrücke nach Schweden ist es auch nicht besonders weit.“
„Theoretisch könnte er auch schon seit Montagmorgen in Norwegen sein“, ergänzte Delamotte, „ich habe es heute früh mal überprüft: die reine Fahrzeit von Minden bis zur Grenze zwischen Schweden und Norwegen beträgt etwas über zwölf Stunden. Für jemanden, der gerade das Endziel seiner Mission, vielleicht sogar seines Lebens ansteuert, ist das machbar.“ Der Vater von Anja Kovac, hatte er sich beim Frühstück erinnert, war einmal die ganze Strecke von Zadar nach Bliesfeld ohne Pause gefahren.
Hauptkommissar Pesch nickte und fuhr fort: „Er wird definitiv damit rechnen, dass uns sein Name bekannt ist – spätestens seit den Morden an Strack und Bussmann. Vermutlich hält er es auch für möglich, dass wir die Geschichte mit Malin inzwischen kennen, und Ihnen in Norwegen Bescheid gegeben haben.“
Marino warf ein: „Dass Sie hier bereits nach ihm und seinem Auto suchen, wird er in seine Überlegungen mit einbeziehen. Es ist denkbar, dass er das Auto irgendwo abgestellt hat und mit der Bahn weitergereist ist. Sie müssen bedenken: dieser Mann handelt zumeist sehr vorsichtig und durchdacht.“
Delamotte kam noch ein Gedanke: „Es wäre interessant zu wissen, ob Osterfeld Norwegisch spricht.“
Solberg antwortete: „Das tut er, und zwar wohl ziemlich gut – sofern es inzwischen nicht verstaubt ist. Frau Gjelland hat mir das erzählt. Immerhin waren sie fast acht Jahre lang ein Paar, und machten jeden Sommer Urlaub in Norwegen – und die Weihnachtstage verbrachten sie auch immer hier.“
Die junge Kommissarin wirkte auf Delamotte nicht ganz so skeptisch und abweisend wie ihr Vorgesetzter. „Ein sehr unauffälliger Mann Mitte Fünfzig, planvoll und abgeklärt“, sagte er, „und der Landessprache mächtig. Sie sehen, welche Herausforderung das ist, nicht wahr?“
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