About Carl M. Einstein

Diese Herrnhutische Stadt, worin ich geboren wurde,
versandet noch heute den Rhein, reizlos und ärmlich.
Man hat dort die besten französischen Möbel geschreinert,
und der Portwein der Herrnhuter, die ihre Töchter
damals nach dem Los an Missionare verheirateten, war
eine gute Sache. Schon morgens nahm man ihn im Elefantenstall.
Dies Herrnhuter Viertel war rational und totenstill,
geometrisch wie eine alte Jungfer. Die weißen
Fenster blieben geschlossen, niemand schaute heraus,
pedantisches Empire verbarg große Gärten, woraus
mitunter eine weiße Haube lugte. Die Kirche war kahl wie
ein Operationssaal, Gott als weißes Quadrat.
Der Pöbel wohnte im kleinen Frankreich, ebenso die
Stadtverrückten. Dort hing Wäsche, und die Mädchen
gingen auf die Rabeninsel am Rhein. Man erzählte
Schauerliches. Am kleinen Frankreich vorbei, woraus
hie und da ein Stein oder Fluch in die Schloßstraße flogen,
ging man ins Fürstliche, beschaute idiotische
Schloßpfauen und saß an der Rheinspitze, die den Fluß
zerschnitt. Dort träumte man von Ausflügen nach Andernach
und schaute nach dem Kirchturm von Leutesdorf
hinüber.
Abends saß man vor dem Haus. In der Weinkneipe gegenüber
grölten die Schützen gereimte Trinksprüche,
man erzählte Mordsgeschichten, wenn man nicht in
Sue, dem Zauberer von Rom, Dumas oder Gerstäcker
steckte. Als Comble des Witzes wurde mitunter die Eingabe
eines Schulmeisters an Friedrich den Großen
vorgelesen. Diese langweilige Stadt scheint langsam zu
sterben. Ich glaube, die andere Rheinseite hat mehr Verbindungen
oder sonstwas. Doch immer noch speien die
aufsässigen Männer des kleinen Frankreichs gelassen in
den heiligen Rhein.
Nachts saß ich mit meinem verstorbenen Onkel um
den runden Tisch. Wir rauchten und lasen Räubergeschichten
aus der Leihbibliothek eines stotternden
Buchbinders. Man ging spät schlafen und stand spät
auf.
Auf der Schule machte mir die übliche Ignoranz der
Lehrer einen häßlichen und dauernden Eindruck. Unwahrscheinlich
deformierte Bürger dösten und quälten
zwischen Stammtischen und Grammatik. Humanistische
Monstres. Ein Altphilologe, der aus dem Manöver
zurückkam, modernisierte den Cäsar, rüstete ihn mit
Maschinengewehren aus und ließ die Legionäre locker
ausgeschwärmte Schützenlinien bilden. Ein Wort beunruhigt
mich heute noch: ‚frumentarium, das Getreidewesen’.
Was ist das? Wir hatten einen Physikprofessor,
einen schweigsamen Waldläufer, der einmal die Rede zu
Kaisers Geburtstag halten sollte und damit begann:
„Wenn ich zwei Frösche in ein Glas Wasser setze…“ Von
der Sexualität der Frösche kam er dann auf das geeinte
Vaterland zu sprechen. Bei der Lektüre des Platon wurde
der Hauptwert auf das ‚men te kai ouden‘ gelegt, mitnichten
aber so wenn nämlich hinwiederum. Platon
selbst hatten die Pauker so wenig begriffen wie wir.
Das entscheidende Erlebnis war natürlich Karl May,
und der Tod Winnetous war mir erheblich wichtiger als
der des Achill und ist es mir geblieben. Ich flog aus dem
Abitur und kam in ein Landgymnasium. Sonntags betrank
ich mich im Karzer und las Detektivromane, Wedekind
oder Rimbaud.

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