Dröhnendes Brunftgebrüll

Dröhnendes Brunftgebrüll schallt durch den Bruch an diesem trüben Septembermorgen an der Müritz. Mein Freund der Biobauer Stefan führt mich mal wieder an die entlegensten Brunftplätze im Nationalpark. Bin mächtig gespannt, was wir heute alles zu sehen bekommen. Die Biorinder schauen uns prüfend an, ein Kalb läuft aufgeregt davon, als wir uns an den Birnenhain heranpirschen. Den ließ einst Willi Stoph als Vorsitzender des Ministerrates der DDR anlegen, um die Brunfthirsche vor seine hochherrschaftlichen Luxuskanzeln zu locken. Dreißig Jahre ist es nun her, dass die Mauer fiel und die alten Herrscher neuen Platz machen mussten. Lässt sich das Rotwild noch immer vom dumpfen aufschlagen der überreifen Früchte locken? Mit einem Mal schreit ein gewaltiger Hirsch direkt vor uns den fast etwas heiseren, tiefen Brunftruf. Ich bekomme eine Gänsehaut. Da ist er unser alter Freund, der starke Vierzehnender mit den langen Sprossen. Sehnsüchtig hallt sein Ruf durch die diesige Morgenluft. Geistesgegenwärtig schieße ich schnell ein paar Fotos mit der Canon. Bei seinem letzten Ruf schaut er mir direkt in die Augen, als wenn er weiß, dass er heute nichts zu befürchten hat. Dann dreht sich der alte Recke langsam um und verschwindet mit majestätischen Schritten im Schilfgürtel.
Werden unsere Enkel sowas noch erleben dürfen?

Bild und Text von 2019