WELT AM SONNTAGAutor: Thilo Sarrazin|06:02

"Das ist, mit Verlaub, großer Kitsch"

Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit hat jetzt auch ein Buch über
Integration, Chancengleichheit und Toleranz geschrieben. Sein früherer Kollege
Thilo Sarrazin hat es gelesen. Hier seine Rezension:

Mit Neugier habe ich Klaus Wowereits Buch zur Hand genommen. Die Passagen, in denen
er sich polemisch zu Thilo Sarrazin äußert, übergehe ich bei meiner Rezension. Als
Finanzsenator habe ich sieben Jahre lang mit dem Regierenden Bürgermeister Wowereit
sachlich und konstruktiv zusammengearbeitet. Mein Buch hat er jedenfalls nicht gelesen
oder seine Analysen verdrängt, weil sie nicht opportun sind.

Wowereits Buch enthält lange Passagen, denen man zustimmen kann. Das gilt
insbesondere für die Bedeutung von Bildung und Arbeit bei der Herstellung von
Chancengleichheit und Teilhabe. Zu Recht betont er auch die Notwendigkeit des
persönlichen Aufstiegswillens und führt dazu sich selbst als Beispiel an. Neues enthalten
diese Passagen allerdings nicht. Schön und für den Berliner herzerwärmend sind viele
Abschnitte über Berlin und die Berliner. Man merkt: Klaus Wowereit liebt seine Stadt, und
das ziert einen Regierenden Bürgermeister. Zu Recht betont Wowereit auch die gewaltige
Integrationsleistung, die Berlin in seiner Geschichte erbracht hat.

Ganz richtig beschreibt er die Bedenken, die er gegen eine Migrantenquote in
Parteigremien hat: Migranten und Nichtmigranten können kaum sauber voneinander
abgegrenzt werden. Die Leistung jener Migranten, die es aufgrund eigener Anstrengungen
und Verdienste schaffen, wird durch eine Quote entwertet. Während doch Integration
auf Aufhebung von Trennung nach Herkunftsgruppen gerichtet ist, wird durch eine Quote
diese Trennung akzentuiert.

So weit das Positive. Schwerer wirken die Defizite. Das beginnt mit Wowereits
Integrationsbegriff. Wowereit vermischt nämlich die allgemeine Frage des Umgangs mit
Minderheiten mit dem Integrationsproblem. Anders als uns Wowereit gleich auf Seite 7
seines Buches klarmachen will, ist Integration mehr als der Abbau von Diskriminierung, als
Toleranz und Vielfalt. Auch die Parallele zur Integration von West- und Ostdeutschland
führt in die Irre.

Für Wowereit haben alle Minderheiten ein potenzielles Integrationsproblem. Ob es sich um
Behinderte, arme Rentner, Schwule, Lesben, Russlanddeutsche, Polen, Vietnamesen,
Türken, Araber, Kosovoalbaner, Roma aus Rumänien und Bulgarien handelt - für Klaus
Wowereits Integrationsbegriff sind sie alle gleich. So weit ausgedehnt und bis zur
Unkenntlichkeit inhaltsleer, kann man seinen Integrationsbegriff eigentlich in einer
Kurzformel zusammenfassen: "Seid umschlungen, Millionen."

Die fehlende Rampe für den Rollstuhlfahrer am S-Bahn-Eingang wird damit gleichgesetzt
mit der Straßenkriminalität von Roma aus Bulgarien. Beides ist eben ein
Integrationsproblem. Das ist, mit Verlaub, großer Kitsch. Wer alles in einen Topf wirft,
vernebelt die Probleme und redet der Verharmlosung das Wort.

Peinlich wird es, wenn Wowereit in diesem Zusammenhang auf seine Familie zu sprechen
kommt. Er schreibt: "Die Wowereits haben einen Migrationshintergrund", und führt als
Beleg an, dass seine Mutter als Landarbeiterkind in Ostpreußen aufwuchs, bevor sie als
junge Frau nach Berlin ging. Wowereit möge im Geschichtsbuch nachschlagen:
Ostpreußen war damals eine Provinz des Landes Preußen. Wenn seine Mutter 1938
eine Fahrkarte löste und in die Landeshauptstadt Berlin fuhr, so war sie damit genauso
wenig Migrantin, wie heute ein Kleinbauer aus Oberfranken dadurch zum Migranten wird,
dass er sein Glück in München versucht. Noch peinlicher wird es, wenn Wowereit die
litauische Herkunft seines Namens mit der Vermutung verbindet, seine Vorfahren seien aus
Litauen eingewandert: Vor der deutschen Besiedlung wohnten in Ostpreußen Litauer,
Masuren und andere slawische Stämme, die sich teilweise mit den einwandernden
Deutschen vermischten.

Mit wie viel mehr Recht als Wowereit könnte ich mich als Migrantenkind bezeichnen!
Meine Großmutter väterlicherseits war Engländerin, meine väterlichen Vorfahren kamen
im 16. Jahrhundert aus Burgund. Meine westpreußische Mutter war bis 1939 polnische
Staatsangehörige. Ich käme aber nicht auf die Idee, mir einen Migrationshintergrund
zuzuschreiben: Ich wuchs in Recklinghausen auf, und natürlich bin ich Westfale!
Was denn sonst?

Wowereits historische Kenntnisse sind bestenfalls schütter, und das tut dem Buch nicht gut:
Blühender Unsinn ist der Satz "Ohne Migration wären moderne Gesellschaften gar nicht
vorstellbar" (S. 67): Die europäischen Länder hatten im 19. Jahrhundert, als sie zu
Industriemächten heranreiften, keine wesentliche Einwanderung, Deutschland war ein
Auswanderungsland. Japans Aufstieg zur Industriemacht war nie von Einwanderung
begleitet, dasselbe gilt für das heutige China. Regionale Bewegungen gab es natürlich
immer.

Bei Wowereit geht auch völlig unter, dass es nicht gleichgültig ist, wer kommt: Im
Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wanderte eine sehr überschaubare Zahl
osteuropäischer Juden zu. Gewicht gewann diese Einwanderung erst durch die besondere
Bildungsorientierung dieser Gruppe: Vor dem Ersten Weltkrieg war die Abiturientenquote
der Berliner Juden achtmal so hoch wie der Berliner Durchschnitt - übrigens ganz ohne
besondere Förder- und Integrationsprogramme.

Schief und irreführend auch der Satz: "Hochkulturen entstanden immer dort, wo nicht Abschottung, sondern Miteinander gepflegt wurde. (...) Dahinter steht eine bis heute gültige Erkenntnis, dass Kooperation immer stärker ist als Konfrontation." Letzteres könnte auch Papen zu General Schleicher am Vorabend des 30. Januar 1933 gesagt haben. Das antike Ägypten, das Römische Reich oder China entwickelten sich nur deshalb zu langlebigen Hochkulturen, weil sie durch gesicherte Grenzen Zuwanderung wirksam kontrollierten: In Ägypten waren das die Wüsten, im Römischen Reich der Limes und in China die Chinesische Mauer. Mit dem Weströmischen Reich hatte es ein Ende, als zuerst die Germanen und dann die Hunnen den Limes durchbrachen, so wie die "Einwanderung" der Türken nach Kleinasien dem Oströmischen Reich 800 Jahre später ein Ende setzte.

Den Gipfelpunkt seiner historischen Quacksalberei setzt Wowereit mit dem einzigen Satz seines Buches, der sich mit dem Islam auseinandersetzt: "Ja, es gibt extremistische Tendenzen bei Religionen, im Islam ebenso wie bei Protestanten und Katholiken." (S. 158) Wie viele Attentate von Katholiken gab es denn bisher unter der Amtszeit von Papst Benedikt? Und welche extremistischen Tendenzen hat Klaus Wowereit in der Evangelischen Kirche Deutschlands unter dem braven Präses Schneider entdeckt? So schreibt einer, der sich drückt, indem er die Augen fest verschließt.

Der Einwanderungsdiskussion, wie sie Klaus Wowereit führt, fehlt schlicht das geistige Niveau.

Damit bin ich beim Kerndefizit seiner Betrachtungsweise: Er blendet aus, dass es gruppenbezogene Unterschiede gibt, die der Erklärung bedürfen: Italiener, Spanier, Griechen, Kroaten, ostdeutsche Vietnamesen, die zusammen in weitaus größerer Zahl angeworben worden waren als Türken und Marokkaner, haben heute, soweit sie noch in Deutschland leben, keine nennenswerten Integrationsprobleme. Das gilt ebenso für Russen, Ukrainer und Polen. Die Probleme konzentrieren sich ausschließlich auf Migranten aus der Türkei, dem arabischen Raum sowie auf Sinti und Roma.

Die durchschnittlichen Pisa-Werte der Kinder türkischer und arabischer Migranten sind überall in Europa schlecht, das ist auch Wowereit nicht entgangen (S. 98). Das liegt aber nicht an "Unterschichtung", wie er meint, sondern an den Bildungstraditionen der Herkunftsländer. Die Pisa-Werte von Türken und Arabern an europäischen Schulen sind nämlich nicht schlechter als die ihrer Altersgenossen in den Herkunftsländern.

Die bei uns mögliche "Zuwanderung in den Sozialstaat" bedeutet auch, dass wir für die (im Hinblick auf das künftige Qualifikationsniveau) falsche Art von Einwanderern besonders attraktiv sind. Auch dieses Problem wird von Wowereit völlig ausgeklammert.

Das traurige Ergebnis: Die regionale Struktur unserer Zuwanderung senkt die durchschnittliche Bildungsleistung in Deutschland. Die USA, Kanada und Australien haben dieses Problem nicht. Dort kommt die Zuwanderung vor allem aus Ostasien. Die Kinder dieser Einwanderer erbringen von Anfang an durchweg bessere Schulleistungen als die einheimische weiße Bevölkerung. Damit steigert Zuwanderung dort die durchschnittliche Bildungsleistung. Die niedrige Bildungsleistung bestimmter Einwanderungsgruppen in Europa ist eben nicht allein ein Sprachproblem, die Ursachen sind offenbar tief in der Herkunftskultur verankert. Auch dies ist ein Aspekt von "Multikulti".

Bildung muss hier möglichst viel ausgleichen, aber kann sie wirklich alles ausgleichen? Gerade die nähere Analyse der Berliner Bildungsleistung zeigt, dass dies trotz der höchsten Bildungsausgaben in Deutschland bisher nicht gelungen ist. Und die Aufgabe wird jedes Jahr schwerer: Der Anteil von Kindern aus der Unterschicht an den Berliner Einschülern steigt unaufhörlich und liegt mittlerweile bei 40 Prozent. Kein Wort bei Wowereit zu diesem Problem.

Klaus Wowereit hat eine Schönwetter-Mutmach-Fibel geschrieben. Zu hoffen bleibt nur, dass der geistige Anspruch des Regierenden Bürgermeisters weiter reicht, als sein Buch erkennen lässt.

Vielleicht verharrt er ja nur aus wahltaktischen Gründen an der Oberfläche der Probleme. Dann hätte er sich allerdings für die falsche Taktik entschieden: Nur noch 17 Prozent der Wahlberechtigten in Berlin haben SPD gewählt, Wowereit konnte nicht einmal seinen Wahlkreis gewinnen. Dass man mit klarer Problemansprache weiter kommt, zeigen Heinz Buschkowsky und das spektakuläre Wahlergebnis der SPD im Bezirk Neukölln, das um 15 Prozentpunkte über dem Landesergebnis liegt. Sollte man es nicht doch mal mit der ungeschminkten Wahrheit versuchen? Viele Bürger scheinen das zu honorieren.



WON